8 Monate anno 1902 (19)
Nach den Ausflügen in der Umgebung geht es heute noch weiter weg – wir begleiten Marie auf der Reise ins Trentino, wobei sie beiläufig viel von Ihrer Lebenswelt offenbart. Dass Reisen keine Kleinigkeit war, sondern man sich „dem Himmel anempfahl“. Dass sie öfters im Gebirge unterwegs war – worum handelt es sich bei der zwei Mal erwähnten „Wetterburg“? Das Titelbild zeigt Matrei (wohl vor dem Brand von 1916?) mit der Eisenbahnstrecke. Ich gestehe, ich kenne den Ort eigentlich nur im Winter, und nur durchfahrenderweise am Weg zur Rodelbahn von Maria Waldrast – sowohl die „Halbinsel in den Fluß, welche so ideal von blühenden Kirschbäumen umrandet ist“ als auch „das byzantinisch ähnelnde Häuschen“ sind mir persönlich völlig unbekannt. Aber vielleicht weiß jemand von Ihnen mehr dazu?
4. Mai, Sonntag, Fest des hl. Florian. Morgens nahte ich mich den hl. Sakramenten, dann gieng ich zum academischen Gottesdienst. Es regnete sehr kalt. Dennoch giengen wir über den Saggen, worauf ich in der Hofkirche zukehrte. Zuhause angelangt schrieb ich 3 Briefe u. 2 Karten u. zwar an Herrn Muigg, er möge die Kellerthür auf der Wetterburg öffnen, an Madeleine, sie solle am Dienstag heraufkommen, u. den l. Großtanten, um vor unserer Levico-Reise schriftlich Abschied von ihnen zu nehmen. Ein Brief galt noch für Hilda, die 2. Karte für Herrn Fabiani, um die Dienstagstunde abzustellen. Abends kam Herr Rudolf Baumgartner.
5. Mai, Montag. Heute früh wieder Regen. Schon von der Maiandacht nach Hause angekommen, hatte ich es sehr eilig. Denn, da wir morgen nach Levico reisen wollen, musste ich noch Kaffeebrot u. Cakes backen. Es gab auch viel einzupacken u. herzurichten; ich kaufte noch Films u. Ansichtskarten, Goldsalz etc. Abends kam Hauck Pepi mit 2 Reisebouquets, dann Frau Wollek u. Herr Dr. Waldner, sich verabschieden.
6. Mai, Dienstag. Beginn der Levicoreise. Heute hellte sich der Himmel etwas auf: „wenn die Engel reisen, wird sich‘s Wetter weisen“, heißt‘s ja. Um ¾ 8 h kamen die l. Frau Mutter u. Madeleine, letzte das große Madonnenbild bringend, welches Fr. Mutter in Tante Anna‘s Namen gestern nach der Versteigerung bei Hw. Herrn Oberkaplan gekauft hatte. Nun wurde noch fertig eingepackt; um ½ 11 Uhr machten wir Mittag u. dann verabschiedeten wir uns von der guten Frau Mutter, Madeleine u. Margreth. Eiligst nahten wir uns dem Bahnhof; dort trafen wir Frau Wollek und Frl. Louise Schumacher, welche sich beide noch von uns verabschieden wollten. In wenigen Minuten jedoch fuhr schon der Expreßzug ein. Wir nahmen rasch Platz darin, während Josef u. Herr Schneider das Gepäck hereingaben. Ein Pfiff der Lokomotive u. wir fuhren den Damm neben der Sill empor, unsere Reise dem Himmel anempfehlend. Wir hatten ein ganzes Coupé allein u. ich schaute fleißig hinaus durch die angelaufenen Doppelfenster des Wagens. Da zogen sie wieder alle vorbei an meinen Augen die wohlbekannten Punkte der Brennerbahn; bei Matrei lachen die schneebedeckten Berge des Volder- u. Naviser-Thales entgegen, u. das weiße Kirchlein desselben mahnt[?] mich immer an unsere Jochbesteigung von der Wetterburg aus. Unten aber in bei der Sill ragt jene kleine Halbinsel in den Fluß, welche so ideal von blühenden Kirschbäumen umrandet ist. Weiter innen steht das byzantinisch ähnelnde Häuschen, welches mir auch immer gut gefällt. Immer mehr kommen wir dem Schnee näher; an den Bahnwächterhäuschen neben uns schmilzt soeben im wärmenden Sonnenstrahl die Schneeschicht, welche sich auf den Dächern gelagert hatte. Wir sind nun in einer ganzen Winterlandschaft u. der tiefblaue Brennersee nimmt sich eigenartig in seiner Umgebung beschneiter Felsen aus. Noch ein Rieb[1] u. unser Zug hält, um Wasser zu lassen. Lichter Sonnenschein fällt auf die romanische Kirche, dahinter aber sprüht der Wasserfall hernieder. Ich kniete mich ans geöffnete Waggonfenster u. machte mit meinem Kodak eine Momentaufnahme dieser Idylle. Bald fuhren wir weiter in den bewölkten Himmel hinein, aus dem nur theilweise blaue Fleckchen lachten. In Franzensfeste machte ich vom Zug aus, fahrend, eine Aufnahme der Pusterthalerbahn; dann folgte das nette Tannenwäldchen, was mich an die Heimat erinnerte. Brixen; wir aber fahren langsam vorbei u. werfen nur einige Blicke auf die nette, anheimelnde Bischofsstadt, u. auf die selbe umgebenden reizenden Dörfer, welche bis hoch hinauf den grünen Wiesenplan unterbrechen. Nun kommt die felsige Gegen vor Bozen, wo auf einmal der Nordtiroler-Zauber verschwindet; spärlich bewachsene Felsen thürmen sich neben dem wilden Eisack in die Luft; nun nahen wir uns der Stadt; doch ich muss ich rückwärts blicken auf den beschneiten Schlern und die Vayolett Thürme. Trüber, immer trüber, wirds gegen Trient u. schon fällt manchmal ein Regentropfen an das Coupé-fenster. Endlich langten wir am Bahnhof an; wir stiegen eiligen Schrittes aus u. wandten uns dem Perron zu, wo uns Silvio Bosco bereits mit seiner Kalesche erwartete. Es regnete wirklich ein wenig, weshalb wir mit geschlossenem Wagen durch die Stadt fuhren. Dann aber wurde es uns zu eng, u. wir ließen das Dach zurückschlagen. Mit Wohlbehagen genossen wir nun die frische, balsamische Luft des Trentino. Und wieder waren es alt‘ bekannte Gegenden, die an uns vorbeizogen. Der überhängende Felsen, die Thalsperre etc. Aus dem Valsugana aber blies ein eisiger, uns in dieser Gegend ganz unbekannter Wind. Es schien, als ob ein Schneegewitter in den Höhen wüthe. Die Berge sahen auch wie gezuckert aus, so deckte sie Neuschnee. Bei Pergine ließen wir den Wagen wieder schließen, u. wir alle hüllten uns noch immer in unsere Mäntel. Doch bevor wir nach Levico kamen, durchbrach die Sonne siegreich das Gewölk u. vergoldete die Höhen der Weinberge. Aber bald wurde es wieder trüb und kalt u. so langten wir um ¾ 7 Uhr in Levico an. Also nach 2 ½ stündiger Fahrt von Trient. Wir haben in der Villa Prunner die 2 Zimmer im ersten Stock u. zwar sehr hübsch eingerichtet heuer. Wir giengen gleich zu Pedrotti u. speisten dort à la carte ganz gut. Nachdem wir mit Herrn Pedrotti sen. u. jun. ein bischen geplaudert hatten, giengen wir nach Hause, wo wir allerlei auspackten u. uns dann um 10 Uhr zur Ruhe begaben. Es war ziemlich kalt u. ich legte die Couvertdecke u. die Unterröcke aufs Bett u. zog noch dazu einen Shal [sic!] an. Dies der 1. Tag in Levico.
[1] Unter „Rieb“ versteht man eine scharfe oder auch eine abschüssige Kurve.
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, KR-PL-1495 (Ansicht von Matrei mit der Bahnstrecke, undatiert).
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Wetterburg, Halbinsel und ein Hauch von Byzanz…die Wetterburg wird wohl nicht das Schloß Trautson gewesen sein, eher vielleicht der burgähnliche Ansitz Arnholz in Schöfens Nr. 20 oberhalb von Matrei, wenn es nicht ein verloren gegangener Insiderbegriff der Familie war. Von dort aus wandernd käme man auch bald einmal ins Navis. Das Kirchl eingangs des Navistales ist St. Kathrein mit den schönen Fresken.
Die Halbinsel wird vielleicht die auffällige große Sillschlinge um den damals noch kaum bebauten Ortsteil Statz gewesen sein, wenn sie nicht dem Hochwasserschutz gewichen ist, und nach Byzanz versetzen konnte mich in Matrei auch kein Gebäude, obwohl ich mich leidlich auskenne. Womöglich ein Bombentreffer oder mit den gleichwertigen bekannten Folgen umgebaut.
Völlig unbekannt war mir der reizende Begriff Reisebouquet. Während man heutzutage vor der Reise um Himmelswillen! keine Schnittblumen mehr brauchen kann, scheint es ein – übrigens sehr netter – Brauch gewesen zu sein, sich die Reise und die ersten Tage des Aufenthalts mit einem Bouquet zu verschönen.
Eine sehr interessante Reiseschilderung, auch wegen der Fahrt mit der Kutsche von Trient nach Levico.
Eigentlich würde man ja erwarten, dass Marie mit der Valsuganabahn gefahren wäre.
Wahrscheinlich haben die Reisenden zum Zeitpunkt der Bestellung des Wagens mit frühlingshaftem Maiwetter gerechnet und die Kutschenfahrt der Bahnreise vorgezogen. Tempo galt damals als ordinär und als Metier der Rennpferde und Radfahrer.
Außerdem hatte schon die Kutsche der Bahn etwas voraus, was diese heute noch hinterherhinken läßt: Wie mit dem Auto fuhr man direkt bis zum Hotel. Die Bahnstation von Levico ist recht weit unten, man hätte zu guter Letzt doch umsteigen müssen. Usw usw…
Oder, viel profaner, die Fahrpläne waren damals wie heute nicht den eigenen Bedürfnissen angepaßt.
Interessant auch, daß selbstverständlich der italienische Name Levico verwendet wurde, während das moderne Google Maps den Ort heute noch als Löweneck ausweist.