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8 Monate Anno 1902 (56)

8 Monate anno 1902 (56)

Ich gestehe, heute bin ich sprachlos. Zum einen spuckt unsere Datenbank zu vielen der erwähnten Orte kein einziges Bild aus. Und dort wo sich eines oder zwei finden, nichts zeitgenössisches. Deshalb also oben unsere einzige Aufnahme von Sargans, knapp ein halbes Jahrhundert, nachdem Marie es bewundert hat. Und zum anderen weiß ich zum Inhalt auch nichts zu sagen. Sargans, Buchs, Zürich – alles Orte die mir lediglich als Stationen aus dem Schnellzug bekannt sind, aus dem ich bis dato meist in Innsbruck, allerspätestens aber in Feldkirch ausgestiegen bin. Aber vielleicht kann ja der eine oder die andere Fernreisende etwas dazu beitragen?

Weiter im flachen Thal, rechts ein Schloss, links schichtenförmige Felsen, in der Mitte Felder; der Türken steht noch, hat aber die Spitzen an jedem Stamm abgebrochen, ganz komisch! – Fade Gegend, großes Moos, Torfstich. Nendeln, 2 Dörfer von der Bahn entfernt. Nun wieder felsige Berge, in der Ebene Moos. Schönes Wetter, Sonnenschein, in der Höhe der Scirocco. Eschen, ein Ort. Wiesen u. vereinzelnte Bäume u. Häuschen reihen sich aneinander fast bis zur Spitze der Berge. Eine Albernallee. Links öffnet sich ein großes Thal; herrliche Aussicht auf mehrere Bergketten hintereinander, in der Ferne hohe schneeige Berge, deren in der Abendsonne glühendes Weiß ideal mit dem zarten Hellblau des Himmels harmonierte! Buchs, ein reizender Ort mit Kirche und Schloss, davor der Rhein, den ich zum 1. male schaue! Er ist auch ganz blau. Hier steigen wir aus u. ich sandte von schweizerischem Boden Ansichtskarten an Margreth u. Martha. Wir giengen auf u. ab; es ist so warm, sowohl im Freien, als auch im Coupé. Unser Zug hat sich unterdessen umgekehrt, wir fahren jetzt quasi retour. Wir fahren hingegen jene fernen, weißen Berge. Sevelen, Haltestelle. Links liegt nun Schloss Vaduz u. darunter die Villa des Fürsten von Liechtenstein, dessen Reich da drüber ist; in der Ebene der Ort Schan-Vaduz, wirklich hübsches, nettes Ländchen! – Rechts sonnenglühendes Hügelland, links schroffe Felsabgänge; das Thal voll Türkenfelder; auf einem isolierten Berglein ein altes Schloss. Zäh fallen die Felsen ab; einige beschindelte Häuschen. Trübach; durch eine Erlenau, neben uns fließt klares Wasser. Rechts die ersten Weingelände! Sargans, Haltestelle mit Doppelbahnhof. Wir fahren links vor u. kehren dann nach rechts um, wobei wir ganz nahe an das Städtchen kommen, welches von einem sehr gut erhaltenen Schloss überragt ist; selbes ist ganz grau mit 6 bunten großen Wappen. Der Ort ist klein, ganz altdeutsch gebaut, die Häuser mit schlanken hohen Giebeln. An den Hügeln viel Wein, in den Gärten riesig viel Obst! Hier wäre es so anheimelnd, so idyllisch schön; wieviel Motive wären hier zum Skitzieren! Links liegt ein ideal zerklüfteter Berg. In der Ferne aber versperrt uns eine ganz quer laufende Bergkette die Aussicht, es sind die 7 Churfürsten: völlig kahle graue Felsen, welche oben senkrecht abfallen, dann in horizontaler Linie gleichmäßig Halt machen, u. dann wieder abstürzen.

Skizze in Maries Tagebuch von einem Berg in der Nähe von Sargans und von den Sieben Churfirsten

Die Gegend erinnert an Südtirol, an die Dolomiten. – Neben der Bahn fließt ein „Gießen“. Im Feld sieht man genau den Schatten unseres Zuges, unseres Waggons, so niedrig scheint die Sonne. Zwischen Obstbäumen blicken winzige Häuschen hervor. Links Flums mit Calciumcarbidfabrik, dahinter Schlossruine. Wallenstadt mit schönen neuen Villen. Jetzt kommen wir an den großen, schönen Wallensee, in den die 7 Churfürsten steil abfallen. Der See ist ganz blau u. wirft fortwährend weiße, schaumgekrönte Wellen empor, die neben uns plätschern; wir fahren nämlich knapp daran. Murg, kleiner Ort am See, hinter den Häusern ragen gleich rothe Porphyrfelsen empor; dann kommen drei Tunnels neben dem Wasser; ein Dampfboot! Wieder ein Tunnel, dan Mühlehorn, ein uralter Ort, auch ganz am Felsen lehnend mit spätgothischer Pfarre. Wir fuhren über 1/4 Stunde am See, neben uns bald das blaue Wasser, bald einen schmalen Landstrich, wo die blauen Trauben vom Rebstock her leuchteten, was ich bis dato auch noch nie sah. Zuletzt kommen noch 3 Tunnels, der See wird ganz ruhig und spiegelklar, die Berge flachen sich ab, in der Höhe ein Haus am andern, wie auf einem Krippenbild. Am Ende des Seees (sic!) liegt Weesen; Biberlikopf. – Tief herunter hat’s geschneit. Ziegelbrücke, ein kleiner Ort, Bilten, noch kleiner, dann Reichenburg im Wiesenland. Links in der Ferne eine größere Stadt, es ist Siebenwangen. Nun kommen wir an den Züricher-See; er ist so groß, das man das obere Ende gar nicht sieht; in Nebel und Dunst verliert sich der Gesichtskreis. In der Mitte eine große Insel mit Kirchthürmen u. Bäumen, wie eine Stadt. Hin und hin sind Orte, an unserer Seite, wie auch vis-à-vis. Im Wädensweil ist die Abzweigung nach Einsiedel; wir sahen auch das „Hôtel zu den Engeln“, wo l. T. A. u. O. N. bei der Hochzeitsreise logierten. Eine Stunde lang fast fuhren wir am See; stolze Dampfer schwebten darüber hin, weiße Riesenmöven trieben ihr lustiges Spiel in den Lüften;, manch kleines Boot schaukelte dahin. Thalweil; noch immer am See. Zürich-Engel, dann Zürich-Centralbahnhof. Dort stiegen wir aus u. speisten im Bahnrestaurant zu Abend u. schrieben an Margreth eine Ansichtskarte, dann giengen wir bis zur Abfahrt unseres Zuges, 3/4 7h, am Bahnhof auf u. ab.

Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)

Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, GoNe-013267 (Schloss Sargans 1949).

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Dieser Beitrag hat 3 Kommentare
  1. Marie hat mit ihrer ersten Zeichnung – „links liegt ein ideal zerklüfteter Berg“ – ganz offensichtlich den Gonzen skizziert, der hinter dem Schloss Sargans aufragt: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=490891

    Im Online Archivkatalog des Staatsarchivs St. Gallen findet sich außerdem diese Aufnahme vom Bahnhof Sargans. Zwar nicht ganz zeitgleich mit Maries Tagebucheintrag, weil mit „nach 1907“ angegeben, aber eine Vorstellung davon, wie er sich Marie präsentiert haben könnte, liefert das Bild. Jedenfalls ist deutlich erkennbar, dass es sich um einen Doppelbahnhof handelt, wie von Marie notiert: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=490890

  2. Das war die Reisestrecke meiner Eltern in den Sommerferien. Meine Mutter stammte aus Baden-Würtemberg und die Zugreise über Zürich nach Basel war die übliche Anreise. Für mich war das ein unfassbares Erlebnis, aber nur wenig ist mir in Erinnerung. Seltsamerweise war das z.. das dem feinen Kindergehör deutlich veränderte Fahrgeräusch des Zuges wenn er dem Walensee entlangfuhr, dann, als ich schon lesen konnte, die ehrfürchtige Bewunderung der Viersprachigkeit der Warntafel an den Fenstern, besonders das sporgersi hat mir gefallen, und aux-dehors. wie lustig für ein Kind sind doch Sprachen, wenn man sie spricht wie man sie schreibt. Das englische lean übersetzte sich so automatisch ins Tirolerische.
    Die große Insel mitten im Zürisee muß aber eine Täuschung gewesen sein, wahrscheinlich sah man das turmgespickte Rapperswil. Oder Hurden mit Rapperswil im Hintergrund.
    Je näher man Zürich kam, imponierten mir später die prächtigst ausgebauten Straßen entlang des Ufers, Ampeln ließen die schnellen Autos bald hinter uns bleiben.
    Und der Hauptbahnhof von Zürich! Wenn man aus Innsbruck kommt, spontanes Crocodile Dundee Feeling „Daaas ist ein Bahnhof!“
    Der Zürcher Hauptbahnhof hat noch einen wunderschönen alten Speisesaal. Ich hab jetzt nicht nachgegoogelt, aber dort ist unsere Tagebuchheldin damals sicher dinierend gesessen. Siehe https://www.artists24.net/131924-bahnhof-restaurant-z-rich-hb

    Der Vorstadtbahnhof heißt übrigens Zürich Enge, nicht Engel. Immer dat Jenaue. Die Wortschöpfung „..das Ende des Seees“ im Sinne von Ende des Zuges etc. finde ich hingegen richtungsweisend, kommt sicher mit der nächsten Rechtschreibreform.

    Von Zürich nach Basel konnte man früher durchfahren, der Arlbergexpress fuhr überhaupt nach Paris und weiter nach Calais, von dort per Fähre nach Dover. Vor zehn Jahren fuhr ich in einem TGV von Zürich nach Basel. Ging viel zu schnell. Rapidité, rapidité, beklagte schon Tati in seinem Schützenfest.

  3. Ganz herzlichen Dank für diese interessanten Rechercheergebnisse und Kindheitserinnerungen! Danke auch für die Korrektur bezüglich Enge – ich habe jetzt noch einmal nachgesehen, ob ein Tippfehler vorliegt, aber Marie hat tatsächlich Engel geschrieben.

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