8 Monate anno 1902 (16)
Tagebücher bilden natürlich die Tagesereignisse keineswegs vollständig und objektiv ab, sondern präsentieren ein von den Verfassern und Verfasserinnen geformtes selektives und subjektives Abbild. Deren Auswahl wird dabei unter anderem auch von Zeit, sozialem Umfeld und Geschlechterrollen bestimmt. Zur bürgerlichen Identität gehörte es unter anderem, bestimmte Themenbereiche, etwa Konflikte und Spannungen, Sexualität und unangepasstes Verhalten weitgehend zu verdrängen. Natalie Bruck-Auffenberg hielt in ihrem 1900 erschienenen Ratgeber „Die Frau comme il faut. Die vollkommene Frau“ etwa fest, dass es eine „Sache des guten Tones“ sei, „über Unannehmlichkeiten und Antipathieen im eigenen Kreise unverbrüchlich zu schweigen“ (S. 152).
Dies dürfte auch Marie Grass-Cornet verinnerlicht haben. „Die Tagebücher vermitteln den Eindruck, als wäre Marie das Persönliche zu privat gewesen, um es zu verschriftlichen,“ analysiert Katharina Banzer in ihrer Diplomarbeit zu den im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum erhaltenen Tagebüchern. „Es ist auffallend, dass Emotionen, Gemütszustände, Wünsche oder persönliche Probleme in Maries Aufzeichnungen tatsächlich nur selten auftauchen. Lediglich […] ‚Verdrusse‘ führte Marie an, ohne genauere Darlegung, weshalb es zu Streitigkeiten und Unstimmigkeiten innerhalb der Familie kam.“
Ein gutes Beispiel dafür bieten auch die heutigen Ausschnitte. Offenbar hatte „Waldl“ (wohl der Familienhund) für eine „Affaire“ gesorgt, die zumindest für drei Tage lang für ziemlichen „Verdruss“ sorgte. Erwähnt wird das aber nur zwei Mal knapp und nüchtern wie das Wäsche Waschen, Bügeln und Besuche. Mehr erfahren wir leider nicht…
14. April, Montag. Ich verhoffte Martha, selbe kam aber nicht. Wetter gut; wir machten vormittags bei Hofräthin Schneller Besuch, ohne sie leider zu treffen; nachmittags bei Statthaltereiräthin Dorna, welche richtig zuhause war, später kam auch die kleine Maddalena.
15. April, Dienstag, 1902. Schönes Wetter; Humor allseitig etwas trüber wegen jener dummen „Waldl-Affaire“ am Sagen.
16. April, Geburtstag der lieben Hilda. Ich schrieb ihr eine Ansichtskarte mit jener selbstgemachten Photographie vom Osterdienstag. Heute kam die gute Frau Mutter herauf und wir fixierten die Wäschetage auf Freitag und Samstag dieser Woche. Ich schrieb an Martha.
17. April; heute kam Martha um ¾ 10 Uhr herauf; nachmittags half ich Wäschezählen u. einweichen, dann begleitete ich Martha zur 6 Uhr Trambahn.
18. April (Donnerstag) Freitag. Mit dem 9 Uhr Zug fuhr der liebe Onkel Nikolaus mit Herrn Wollek u. Sekretär Stuchly nach Fritzens, da eine Wasserkommission stattfand. Um ½ 3 Uhr kamen die Herren zurück und tranken bei uns Kaffee. Unterdessen hat sich der Waldlverdruss nur verschlimmert u. der „Refrain aller Liede“ ist u. bleibt diese unangenehme Sache vorderhand. (Wir hatten gestern u. heut‘ große Wäsche.
20. April, Schutzfest des Hl. Josef.
Wir nahten uns den hl. Sacramenten, um 9 Uhr gieng ich zum academischen Gottesdienst. – Abends war H. u. Fr. Wollek hier.
21. April 1902, Montag. Heute früh kamen Madeleine u. Frl. Ployer Anna herauf, um die am Samstag getrocknete Wäsche zu bügeln, wobei ich auch mithalf. Das Wetter war regnerisch.
22.IV. Heute wurde fertig gebügelt.
23.IV.1902. Heute abends fuhr auch Madeleine wieder nach Hall.
24. Georgitag. Da heute die Landhauskapelle geöffnet ist, machte ich einen Sprung hinein. Vormittags giengen wir zu Frau Wollek, ihr zum Namenstag gratulieren; ihr Gatte ist am 21. nach Krapina-Töplitz zum Curgebrauch gereist. Abends war Herr Secretär Stuchly geladen. Wir gaben Schinken u. Salamie mit Kren, Auerhahn mit Reis, Spargeln u. Salat, Mandelstangen.
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, KR-PL-832. Die undatierte Fotografie zeigt Fritzens mit dem Bahnhof im Vordergrund.
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Am Georgitag wird Frau Wollek zum Namenstag gratuliert. Das ist der perfekte Beweis, dass es sich tatsächlich um Georgine Wollek, die Mutter des Abgeordneten Richard Wollek handelt!
Stimmt, das hab ich mir beim Lesen gedacht und beim Schreiben vergessen.
Richard Wollek war 1935 Trauzeuge meines Großvaters.
Insofern freut es mich von der Familie Wollek zu lesen.
Richerd Wollek
….. ist Wollek Namensgeber des Bandes ‚in vestigiis Wollek‘, einem Ehrenband, das vom Cartellverband der katholischen österreichischen Studentenverbindungen als höchste Auszeichnung für hervorragende Verdienste an Mitglieder des Verbandes verliehen wird. Das Wollek-Band trägt auf den österreichischen Farben rot-weiß-rot (mit goldenem Vorstoß) in Goldbuchstaben die Worte In vestigiis Wollek und wird über und mit dem Band der Urverbindung und Bandverbindungen gekreuzt getragen.
Was hat es mit dem Titelfoto für eine Bewandtnis? Ist das etwa in Fritzens?
Ja, laut unserer Datenbank ist das der Bahnhof von Fritzens – ich lasse mich aber gerne korrigieren! 😉
Das stimmt schon! War für mich auch von allem Anfang klar, wollte das schon schreiben, sah aber noch rechtzeitig, dass dies eh schon im Text angeführt ist!
Interessant nur: Der Kirchturm bekam inzwischen einen Zwiebel aufgesetzt!
Das Weglassen des Privaten hat sicher auch mit der Maries Erziehung im Kloster Thurnfeld zu tun.
Wenn Frau Grass-Cornet wüsste, dass ihre persönlichen Tagebucheinträge heute weltweit über das Internet gelesen werden können, wird sie vermutlich sogar froh sein, ihre privatesten und intimsten Gedanken nicht ins Tagebuch geschrieben zu haben….
Bei den 122 Tagebüchern von Queen Victoria war es sogar so, dass die Tochter Beatrice im Auftrag ihrer Majestät die Tagebücher transkribieren musste, um die privaten Gedanken und etwaige Peinlichkeiten zu löschen. Die originalen Tagebücher wurden anschließend vernichtet, was viele Historiker und Historikerinnen bestimmt bedauern.
Zur Datierung des Photos: Nach Elektrifizerung der Bahnstrecke, man sieht Maste und einen Güterzug mit E-Lok (vermutl BR 1670, SSW/Krauss) in Fahrt.
Interessant ist die Lage des alten Bahnhofes Fritzens / Wattens – der stand nämlich von der Strecke leicht abgedreht, dort wo die Straßen in den Fritznergraben reingeht. Das alte Bahnhofsgebäude stand noch zumindest bis 1974.
Das Lagergebäude auf dem Photo wurde hingegen schon beim Autobahnbau in den 60érn abgebrochen und durch die neue Halle ersetzt, die wohl bald ebesno umgestaltet wird.
Beim Betrachten dieses Bildes glaubt man ja gar nicht, dass zwischen der Bahnlinie und dem Wiesengelände bzw. den Wiesen mit den Heuschobern der Inn hindurchfließt, auch von der Innbrücke nach Wattens herüber sieht man nichts.
Auf diesen Wiesen diesseits des Inns führt nun die Autobahn, jenseits vor dem Lagerschuppen steht jetzt eine Fabrikhalle vom Würth- Hochenburger (eh. Tonwerk Fritzens). Die Schottergrube wurde saniert mit einer großen Terrassenwohnanlage.