Richard Steidle (XIV.)
Auf Initiative Steidles fand am 26. Oktober 1926 eine Tagung der Heimwehren in den Stadtsälen statt, zu der Vertreter aus ganz Österreich anreisten. Wenn man den entsprechenden Bericht des Allgemeinen Tiroler Anzeigers überfliegt, könnte man meinen, Steidle habe damals die größte politische Ansprache seit den Reden gegen Catilina geliefert:
Mit Spannung sahen die Heimatwehrleute der Rede ihres Führers entgegen, den reicher Beifall begrüßte, als er auf die Tribüne trat. In schlichten, einfachen Worten entrollte er ein Bild der heutigen Verhältnisse in Österreich und nur wenn es der Augenblick erheischte, holte er zu einem monumentalen Satz aus oder zog einen entsprechenden Vergleich heran, der im Bilde beleuchtete, was das abstrakte Wort nicht zu sagen vermochte. Seine Rede, die von tiefem Ernst getragen war, wurde mit großem Interesse verfolgt, und nur hier und da von tosendem Beifall unterbrochen, wenn er mit scharfem Worten Missstände geißelte und zu ihrer Beseitigung aufforderte. […] Nicht enden wollender Beifall umbrauste den Redner, dessen Worte den Weg zur Errettung aus schwerer Not angeben. Man fühlte, dass die Ausführungen auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Nur mit Mühe konnte sich der nächste Redner Gehör verschaffen.
Der Anzeiger druckte die gesamte Rede Steidles auf vier vollen Seiten ab. Er beschuldigte die Sozialdemokraten, den bewaffneten Umsturz zu planen und ihr Vorhaben lediglich zu Propagandazwecken in defensive Sprache zu hüllen. Beinahe gleiche Verachtung hatte er jedoch für das bürgerliche Lager, welches die Gefahr immer noch nicht erkennen wolle und sämtliche Verteidigungsmaßnahmen (auch hier war es nur die Verteidigung) den Heimwehren überließe. Steidle argumentierte, dass die parlamentarische Demokratie in Österreich keinen natürlichen Boden habe, da sich, im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien, hier kein „einheitlicher nationaler Wille“ gebildet habe. Wie man die französische Geschichte betrachten und zu dem Schluss kommen kann, dass dort ein „einheitlicher Wille“ besteht, sei dahingestellt – aber Scherz beiseite, auch in Großbritannien, oder in irgendeinem Land der Erde ließe sich dieser Wille wohl nur mühsam finden. Obwohl Steidle also behauptet, die liberale Demokratie nicht in ihrem Prinzip abzulehnen, so ist seine Bedingung eines einheitlichen Willens so realitätsfern, dass sie de facto durchaus eine prinzipielle Absage darstellt. Steidle forderte Einigkeit und Disziplin innerhalb der Heimatwehren, um gegen den politischen Gegner gewappnet zu sein, den es galt im Falle auch mit Gewalt zu bekämpfen – natürlich nur in Notwehr, versteht sich.
Im Laufe der letzten Artikel zeigt sich somit die steigende Radikalisierung der politischen Rhetorik der Ersten Republik, bis schließlich das Thema des Bürgerkrieges auf beiden Seiten ein Fixpunkt des Diskurses wurde. Dies war interessanterweise der Fall, obwohl die Zahl der Opfer politischer Gewalt nach den turbulenten unmittelbaren Nachkriegsjahren 1919-20 deutlich gesunken war. In diesen zwei Jahren wurden 200 Menschen schwer verletzt oder getötet, in den folgenden sechs (1921-26) waren es insgesamt 47.[1] Erst im folgenden Jahr, mit den Schüssen in Schattendorf und dem Justizpalastbrand, eskalierte die politische Gewalt.
[1] Die Zahlen stammen aus dem Artikel Politische Gewalt – Formen und Strategien in der Ersten Republik Österreichsvon Gerhard Botz, ursprünglich erschienen 1982.
(Titelbild: Die Stadtsäle 1928, Signatur Ph-34865)