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Frag-würdige Karrieren

Frag-würdige Karrieren

Für Wahrheit und Klarheit, gegen Unfug und Unverstand.“ Mit diesem hehren Ziel warb das obige Plakat für einen „Aufklärungsabend des jungen Forschers für Okkultismus Kurt Werner„. „Entschleiertes Geheimnis der Gedankenleser. Fesselnder Vortrag.“ „Kurt Werners Forschungsergebnisse. Natürliche überraschend einfache, wissenschaftliche Erklärung. Die langersehnte Wahrheit.“ Ergänzt wurde dies durch eine telepathische Séance mit „Ricco Mortini„, seines Zeichen der „junge König der Gedankenleser“ und „Europas jüngster Meistertelepath„. Mehr noch: „Drei Minuten Telepathie-Unterricht im Vortragssaale an jedem Interessenten aus der Zuhörerschaft. Belehrung und Ausbildung zum Telepathen.“ Respekt.

Die großen Fragen waren für mich aber eigentlich ganz andere. Wann fand dieser Abend statt und wo? Sucht man nach einschlägigen Begriffen auf anno findet man praktisch nichts. Keinen Kurt Werner, keinen Ricco Mortini, keinen Aufklärungsabend zum Okkultismus. Keine Ankündigungen. Wie erfuhren wohl potenzielle Interessentinnen und Interessenten von diesem Abend? Mundpropaganda? Flyer? Nur die Plakate allein? Diese waren ganz offensichtlich für maximale Verwendbarkeit konzipiert: kein Jahr, kein Datum, kein Ort. Doch Halt! Einige wenige (Nach)Berichte findet man mit der Proximitätssuche nach „Telepathie“ und „Werner“ dann doch. 1919 und 1920 klärte Werner in Oberösterreich auf. Etwa als die Ortsgruppe des Oesterreichischen Gebirgsvereins in Urfahr ihr fünfjähriges Jubiläum feierte (Linzer Tages-Post, 20.6.1919). Wenige Wochen später war er bei der entsprechenden Linzer Ortsgruppe zu Gast.

Laut dem ausführlichen Bericht im Tagblatt vom 26. Juli gliederte sich der „interessante Experimentalvortrag […] in zwei von einander streng geschiedene Teile. Den ersten Teil bildete eine regelrechte telepathische Seance, wie sie in Großstädten von Berufstelepathen vor prunkvollem Publikum veranstaltet werden. […] Der noch interessantere zweite Teil des Vortrages brachte sensationelle Enthüllungen, welche die meisten Zuhörer zuerst in sprachloses Staunen und dann in sichtliche Heiterkeit versetzte.“ Darin klärte Werner auf, wie er vom Gläubigen über den Zweifler zum Wissenden wurde. Was allerortens gezeigt werde „verdienen[sic!] nicht den Namen, da der „Telepath“ nur gute Augen und Ohren, ein sehr feines Tastgefühl, gute Beobachtungsgabe und – wie Werner in erheiternder Selbstironie sagte – eine gehörige Portion Frechheit haben müsse, keineswegs aber übernatür­liche Fähigkeiten – „einen sechsten Sinn“, Empfindlichkeit für „Gedankenschwingungen“ usw.!“ Werner erklärte die unscheinbaren Bewegungen und Signale, die es zu lesen galt, worauf eine Zuschauerin und ein Zuschauer tatsächlich in Experimenten die ihnen gestellten Aufgaben ebenfalls lösen konnten. Somit enttarnte er „den Wunderberuf Telepathie […] als sehr span­nendes Taschenspielerkunstwerk„.

Und was hat das alles mit Innsbruck zu tun? Recht viel. Wenn man erst einmal der Frage nachgeht, wer dieser Kurt Werner eigentlich war. Sein richtiger Name lautete Theodor Seeger (1900-1981), er war der Sohn des Forstbeamten Theodor Seeger (1858–1947) und der Antonie Seeger, geb. Höfferer (1867–1949), die in Tirol und Oberösterreich lebten. Womit sich die Auftritte in Linz erklären. Hinter dem Okkultismusforscher Kurt Werner – und wohl auch dem König der Gedankenleser Ricco Mortini – verbarg sich also in Wirklichkeit ein 18-Jähriger Beamtensprössling! Ende 1919 verfasste er übrigens unter seinem richtigem Namen eine sachkundig-launische Kritik zu einem beinahe ausverkauften Okkultismus-Event im Stadtsaal. Wohl nicht ganz uneigennützig forderte er zum Schluss, man brauche keine solchen Vorführungen mehr, „sondern höchstens einmal einen wirklichen Aufklärungsabend über den Okkultismus“. (ATA, 18.11.1919, S. 3) Ich würde wirklich gerne wissen, was Theo dazu bewogen hat, in so jungen Jahren so selbstbewusst Vorführungen zu diesem doch nicht alltäglichen Thema zu veranstalten.

In diesem Fall gäbe es glücklicherweise vielleicht sogar Chancen auf Anworten. Über Postkartensammler kamen bereits einzelne Korrespondenzstücke aus dieser Familie zu uns ins Stadtarchiv. Später folgte ein Nachlassteil von Theodor Seeger (06.49), der vor allem Fotos und Korrespondenzen, aber auch Dokumente zu seiner Tätigkeit als Kurt Werner beinhaltet. Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum erwarb im Jahr 2015 ebenfalls einen Nachlassteil, der unter anderem 38 Plakate umfasste. Nur diesem Umstand ist es zu verdanken, dass man die Fäden verknüpfen kann. „Aufgrund der Unterlagen nachweisbar von 1919/20 bis 1925 veranstaltete Theodor Seeger jun. unter dem Pseudonym Kurt Werner Vortrags- bzw. Aufklärungsabende zum Thema Telepathie, Okkultismus, Hypnotismus,“ – und, nach einem privaten USA-Aufenthalt 1922 – „zum Thema ‚Amerika von Heute'“, schreibt dazu die Bearbeiterin Josefine Justic. Parallel begann Seeger, Medizin zu studieren, promovierte 1926 und heiratete 1933 die Allgemeinmedizinerin Irmengard Straffner (1907–1977), mit der er ab 1936 eine Praxis in der Maria-Theresien-Straße betrieb.

Bereits die Postkarten aus der Zeit der Monarchie deuten übrigens auf die deutsch-völkische Einstellung und Sozialisierung der Familie Seeger hin. Theodor jun. war später auch NSDAP-Parteimitglied und während der NS-Zeit Gauhauptstellenleiter im Rassenpolitischen Amt. 1945 wurde er deshalb inhaftiert, vor dem Volksgerichtshof angeklagt und erhielt für einige Jahre ein Berufsverbot. Wie die Adressbücher zeigen, praktizierte er spätestens 1953 wieder.

Zwei Episoden aus einem über acht Jahrzehnte langen Leben, die viele Fragen aufwerfen. Und welche Geschichten kann man wohl mit den überlieferten Archivbeständen noch heben? Und wie viele mehr gäbe es, die nie mehr erzählt werden können? Was bleibt am Ende übrig? Was würde Theodor Seeger über sich und sein Leben erzählen, wenn ich mich mit ihm unterhalten könnte? Das sind Fragen, die ich mir an solchen Tagen immer wieder einmal stelle…

(Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Pt-7296)

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