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8 Monate Anno 1902 (59)

8 Monate anno 1902 (59)

Nachdem sie sie im letzten Beitrag nur von außen betrachtete, betritt Marie nun Notre Dame – wie wahrscheinlich alle Touristinnen und Touristen, die zum ersten Mal in Paris weilen. Während Marie besonders vom Innenraum und den Säulen begeistert war, bewunderte ich persönlich vor allem die Portale. Sowohl Maries Besuch, als auch die Beschreibungen fielen aber eher knapp aus, schließlich hatten sich die Gäste „ganz an die französische Sitte“ gewöhnt, reichhaltig den fleischlichen Genüssen zuzusprechen. Kein Wunder, wenn man sich die Aufzählung der Speisen auf der Zunge zergehen lasst. Da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen. Das „Hotel du Louvre“ gäbe es übrigens immer noch. 5 Sterne und Michelin Guide lassen grüßen… Ob ich wohl auf den Spuren von Marie eine Dienstreise nach Paris beantragen könnte?

11. October 1902, Samstag.

Wieder schönes Wetter, doch kalter Wind. Vormittags giengen wir der rue de Rivoli entlang zur Kirche St. Germain l‘Auxerrois, sehr fein gothisch, heute aber alles schwarz verhängt, als ich frug, erfuhr ich, dass der Mr le Curé dieser Gemeinde, gestorben. Neben der Kirche steht ein leider nicht ausgebauter schöner gothischer Thurm, dann kommt das Gemeindehaus des 1. Arrondissement, ebenfalls gothisch, mit seiner riesigen Fensterrose an der Facade, den Eindruck einer Kirche machend. – In der Ile de la Cité besuchten wir heute die Eglise de Notre Dame, die herrliche Kathedrale von Paris Der Eindruck des wettergrauen Äußeren mit seinen schlanken feinen Säulchen ist großartig, betritt man aber das Innere, so steigert er sich noch zu einer unbeschreiblich ehrwürdigen idealen Einfacheit [sic!]. Ich gebe ihm ohne Zweifel den Vorzug vor dem Innern des Stefansdoms. Welche Größe, welcher Wald von Säulen, die das hohe Gewölbe tragen! Auch um den Hochaltar herum sind die doppelten Säulengänge weitergeführt! Du herrliche Gothik, Du bist die Blüte des glaubensbegeisterten Mittelalters! – Zwei Marienstatuen sind u. anderm drinnen, mit vielen, vielen brennenden Kerzen davor u. andächtigen Leuten! Die vordere Statue mit dem Jesuskind ist das Gnadenbild Notre Dame de Paris. – Leider hatten wir keine Zeit mehr, sondern mussten ins Hôtel zum Déjeuner. Wir haben uns ganz an die französische Sitte gelehnt u. nehmen um 12h das aus folgenden Gängen bestehende Déjeuner ein. Krebse, Oliven, Selleriesalat, Sardellen, Wurstschnittchen u. Radieschen und Butter, alles in separater Schale; dann Fisch od. Omelette, eine Platte Fleischspeise entweder Pieds de veau grillés, carrés de présalé (Schöps) od. dgl.; nacher eine Schüssel Spinat, od. grüne Bohnen, od. Karfiol. Zum Schluss Käse u. Obst u. Café noir avec Cognac. Nun nimmt man nichts mehr bis abends ½ 7h, wo das eigentliche Diner ist. Dort gibt es: Entweder klare od. trübe Suppe, dann Fisch mit Kartoffeln, dann Schaf- oder Rindsbraten, dann feines Geflügel wie Reb- od. Truthühner, Fasanen etc. Hierauf wieder eine Schüssel Sellerie od. Spinat, dann Gefrorenes mit Kuchen; Bäckwaren, Obst u. Käse. – Uns passt dies sehr gut u. wir sind stets voll Appetit. – Nachmittags giengen wir über die Avenue de l’Opéra zur Madeleinekirche, welche wohl ganz einem korinthischem Tempel gleicht. Alles ist darin in einem solchen Ebenmaße angelegt, dass es einem[?] die Größe des Ganzen gar nicht auffällt. Das Innere ist auch sehr schön u. ruhevoll. Am Hochaltar ist eine Gruppe aus weißem Marmor, die heilige Magdalena von Engeln zum Himmel getragen; man hat wirklich das Gefühl, wie dieselben emporschweben, während die demütige Magdalena mit niedergeschlagenen Augen einem Gefühle dieser ihr unverdient scheinenden Erhöhung Ausdruck zu geben gleicht! – Beim Eingang ist auch eine Marmorgruppe, Maria Vermählung, auch sehr fein und erhaben ausgeführt. – Im einzigen Mittelschiff stehen alles voll Strohsessel mit detto Kniebank davor, nach Art der italienischen Basiliken. – Wir verweilten dort längere Zeit u. kehrten dann heimwärts; es war 6h abends. Nach Tisch giengen wir noch spazieren.

12. October [1902], Sonntag. Heute befand sich l. Onkel Nicolaus leider nicht wohl, weshalb l. Tante Anna u. ich allein in die Madeleinekirche giengen, wo gerade um ½ 11h eine hl. Messe war. O Herr segne uns! – Wir konnten unsern Stuhl nicht bezahlen da wir gar nicht daran gedacht hatten u. keinen Sou bei uns hatten; der Messner vertröstete sich auf‘s nächste Mal.

Gottlob befand sich l. Onkel Nicolaus wieder besser; wir giengen noch ein wenig herum, dann ins Hôtel speisen. – Nachher machten wir wieder einen Spaziergang u. z. zur Place de la Concorde, dann zur gleichnamigen Brücke, wo wir die prachtvolle Aussicht betrachteten, welche sich hier über die Hauptinnenstadt erstreckt. Die 2 kolossalen Stumpfthürme von Notre Notre [sic!] Dame schauten ehrwürdig u. ruhevoll herab, begleitet vom schmucken Dachreiter; vorne lagen die beiden Endpavillons des Louvre mit den echt schlossartigen Türmen, unten floss die stolze Seine. Wir wandten uns nun in die Avenue des Champs Elisés, der wir bis zum Garten der englischen Gesandtschaft folgten, dann in die Querstrasse einbogen zur Rue St. Honoré, wo wir das Palais des Präsidenten der Republik betrachteten, vor dem eine glänzend betresste Wache hielt. Abends giengen wir heim.

Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)

Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, 06.74.03-1-23-4 und 6 (Notre Dame de Paris, 1906-1914).

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar
  1. Ich kann es dem lieben Onkel Nicolaus nicht verdenken, dass er nach dem üppigen Diner des Vorabends, dem er sich wie wir lesen wohl voll Appetit hingab, sich anderntags zunächst nicht wohl befand.
    Interessanterweise erfahren wir nichts über die gereichten Getränke denen ebenfalls eine gewisse Schuld nicht abzusprechen wäre.
    Zur Überprüfung dieser Annahme müsste man die Verträglichkeit dieser stockfranzösischen Speisefolge allerdings noch genauer recherchieren. Eine Dienstreise unseres l. Herrn Bürgschwentner nach Paris ist in diesem Zusammenhang auf alle Fälle zu begrüßen, nicht zuletzt um auszuschließen ob der l. Onkel Nicolaus nicht doch dem Bordeaux zum Essen oder einem Pastis als Digestif zu sehr zusprach.

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