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Ein Stück Zeitgeschichte

Ein Stück Zeitgeschichte

Der 15. Juli 1927 erschütterte die Erste Republik. In Wien führte die Empörung über die – insbesondere von den Sozialdemokraten – als skandalös empfundenen Freisprüche im Schattendorfer Prozess an diesem Tag zu Massenprotesten und gewaltsamen Ausschreitungen, die im Brand des Justitzpalastes gipfelten. Auf Anordnung des Wiener Polizeipräsidenten eröffnete die Polizei schließlich das Feuer auf die Demonstraten – mit verheerenden Folgen. 94 Menschen, darunter 89 Demonstranten verloren ihr Leben, weit über 1.000 Menschen wurden verletzt. Es war der Anfang vom Ende der Ersten Republik.

An eben diesem 15. Juli machte sich der Tiroler Dr. Franz Kolb nach dem Frühstück auf den Weg zum Parlament. Der Priester und Religionslehrer war erst seit zwei Monaten Nationalratsabgeordneter für die CSP. Als sich gegen Mittag die Lage rund um das Parlament zuspitze, setzte er sich hin und skizzierte auf einem Blatt Papier seine Wahrnehmungen:

Wien, Parlament, 15. Juli 1927 12h mittags.

Es war etwas über 9h als ich heute ins Parlament kam. Noch war nichts Auffälliges zu bemerken, nur eine größere Anzahl von Polizeimannschaft, welche beim Eingang ins Parlament postiert war, ließ vermuten, daß man im Zusammenhang mit dem Abschluß des Schattendorfer Prozesses Demonstrationen befürchtete.
Es sauerte bis gegen 10h ohne daß sich außer dem Vorbeimarsch größerer Demonstrationszüge vor dem Parlament etwas Besonderes ereignete. Dann jedoch schob sich ein großer Haufe[n] von Demonstraten, ihrem Aussehen nach die Hefe der Großstadtbevölkerung, mit aller Wucht zu beiden Seiten der Rampe an das Parlament heran. Es kam zu Handgemenge mit der Polizei, doch die schwachen Posten erwiesen sich trotz der tapfersten Haltung als machtlos.
Wir christlichsoziale Abgeordnete mußten nun in unserem Klubzimmer im Parterre, gegen dessen Front sich die Masse
heranwälzte, darauf gefaßt sein, daß der Sturm zu uns hereinbranden werde. Rasch war das Tor geschlossen, ebenso alle Eingänge versichert worden. Auch die Fensterläden wurden zugemacht. Doch gerade im entscheidenden Augenblick erschien eine Abteilung berittener Polizei, welche mit bewunderungswürdiger Schneid die Haufen zurückdrängte. Stellenweise gab es harte flache Hiebe, leidenschaftliche Aufschreie der Massen, ein wütendes hin u. her.
Ein tapferer Schutzmann, der sich gegen einen wütenden Haufen lange erwehrt hatte, aber schließlich mit Stangen von rückwärts niedergeschlagen worden war, wird schwer verletzt mit zerbrochener Säbelscheide in unser Klublokal gebracht. Die Zahl der verwundeten Demonstranten mehrt sich, viele von ihen werden in die sozialdemokr. Klubräume gebracht, auch Frauen sind darunter.
Auch die Polizei zählt schon mehrere Verletzte.
Die Lage verschärft sich mit jeder Minute …
Wir sind im Parlament blockiert.

Damit bricht Kolbs Bericht ab. Wenig überraschend hatte er als christlichsozialer Politiker für die Demonstranten wenig Sympathie. Wie er den Nachmittag und Abend des 15. Juli 1927 erlebte, ist leider nicht überliefert.

Fest steht aber, dass die Ereignisse diesen Tages die bestehenden Gräben zwischen den beiden großen politischen Lagern merklich und langfristig vertieften. Keine sechs Jahre später begannen die Christlichsozialen unter der Führung von Engelbert Dolfuß mit dem Aufbau einer Diktatur, die im März 1938 unter dem Druck und Terror des NS-Regimes klang- und sanglos zusammenbrechen sollten.

Dr. Franz Kolb war zu diesem Zeitpunkt Direktor der Bundeslehrer- und Leherinnenbildungsanstalt in Innsbruck. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde er von den Nationalsozialisten von seinem Posten enthoben und in weiterer Folge zwangspensioniert. Zwei Mal, 1939 und 1941, verurteilte ihn die NS-Justiz zu Politischen Freiheitsstrafen. Er überlebte den Krieg und starb am 4. September 1959 in Innsbruck.

(StAI, NL Dr. Franz Kolb)

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare
  1. Schön, dass man hier an Monsignore Dr. Franz Kolb erinnert. Dass auch im Stadtarchiv ein Teil des Nachlasses ist, war mir bisher unbekannt. Ein anderer Teil des Nachlasses, auch mit Unterlagen und Fotos zu seiner Zeit im 1. Weltkrieg, befindet sich im Tiroler Landesarchiv.

  2. Zu diesem wertvollen Zeitdokument passt perfekt dieser Zeitungsartikel in den Innsbrucker Nachrichten vom 21. Juli 1927. Franz Kolb war nämlich nach Innsbruck gereist, um bei einer Parteiversammlung als Augenzeuge über die Wiener Vorfälle aus erster Hand zu berichten. Seine Argumente muten für einen christlich-sozialen Politiker aus heutiger Sicht mitunter etwas sonderbar an:

    „Am Dienstag wurde in Innsbruck von der christlichsozialen
    Partei im Kolpingsaal eine Versammlung einberufen, um zu
    den Wiener Ereignissen Stellung zu nehmen. Zunächst berichtete
    Nationalrat Prof. Dr. Kolb als Augenzeuge über die Vorfälle
    in Wien und hob u. a. die große Langmut der Wiener Polizei
    hervor; es sei eine Gemeinheit der Linkspresse, sie als eine
    förmliche „Mörderbande“ hinzustellen. Zum Schluß führte er
    aus, daß die Defensive auf die Dauer zermürbe und daher
    die Taktik, immer nur in der Defensive zu bleiben, falsch sei.
    Er trat für eine Offensive gegen die Marxisten ein
    und meinte u. a.: „Es muß eine Politik gemacht werden, daß die
    Marxisten nicht sagen können, daß sie arbeiterfeindlich ist, eine
    Politik, die die Arbeiterschaft in die große Volksgemeinschaft ein-
    reiht; dann werden arische und deutsche Führer die Arbeiter
    führen und nicht Juden, wie man es bei diesen Demonstrationen
    wieder gesehen hat. Die Arbeiterschaft braucht die Sozialdemo­-
    kratie nicht. Wenn wir in diesem Sinne Weiterarbeiten, wird
    es gelingen, den faulen Zauber des Marxismus in Oesterreich
    zu brechen.“
    Aus dem Berichte des Nationalrates Dr. Kurt Schuschnigg ist
    besonders bemerkenswert, daß er sagte, die traurigen Vorfälle
    sollen uns eine Lehre sein, „daß sich die Länder möglichst
    selbständig halten müssen und sich nicht zu sehr den Wiener
    Einfluß beugen dürfen, so lange in Wien die derzeitige Gemeinde­-
    herrschaft ist. Nicht von Wien aus kann das österreichische Staats-
    wesen gesunden, sondern nur von den Ländern aus.“
    Der Vorsitzende Oberrechnungsrat Aschaber brachte dann
    eine Entschließung zur Verlesung, in der u. a. folgende
    Maßnahmen als unerläßlich gefordert wurden:
    1. Unbedingte Gewährleistung des staatlichen Schutzes für alle
    Arbeitswilligen und strengste Bestrafung aller Saboteure.
    2. Strengste Handhabung jener preßgesetzlichen Vorschriften,
    die die Beschlagnahme von Druckschriften verbrecherischen
    Inhaltes ermöglichen.
    3. Strengste Durchführung all jener strafprozessualen Bestim­-
    mungen, die die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch
    die Presse während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens
    verbieten.
    4. Sofortige Aufhebung des Asylrechtes für die aus
    ihren Heimatstaaten geflüchteten und dortselbst verfolgten
    Kommunisten.
    5. Ausstellung der Pässe an die Mitglieder der russischen
    Gesandtschaft in Wien.
    6. Belohnung und öffentliche Anerkennung für die tapfere
    Wiener Polizeimannschaft, die unter Aufbietung aller Kräfte
    ihre Pflicht bis aufs äußerste erfüllte.
    7. Oeffentliche Anerkennung für Offiziere und Mannschaft der
    ausgerückten Assistenz der Wehrmacht.
    8. Formierung eines Eisenbahnregimentes der Wehrmacht. Die
    Versammlung fordert die Nationalräte der Tiroler Volkspartei
    auf, obige Forderungen mit allem Nachdruck zu vertreten.“

  3. Vielleicht diente das betreffende Manuskript ja als eine Art Gedankenstütze für Kolbs Rede bei der christlich-sozialen Parteiversammlung in Innsbruck.

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