Im Büro der American Relief Administration?
Das heutige Bild zeigte eine Büroszene, die ich beim Durchschauen von Beständen entdeckt habe. Die unterschiedlichen Gruppen, die wohl geschäftiges Treiben in dem Büro vermitteln sollen, besitzen für mich einen ganz eigenen Charme. Besonders fesselten mich aber der junge Mann am Telefon und der Herr mit Glatze, die uns direkt anblicken und uns mit ihren Blicken förmlich zu durchdringen scheinen.
Die Szene selbst kann ich nicht eindeutig zuordnen und unsere Datenbank weist keine Informationen dazu aus, ich gehe aber davon aus, dass die Aufnahme im Zusammenhang mit der Arbeit der American Relief Administration (ARA) und dem damit verbundenen European Children’s Fund entstanden ist. Auf dem Bild hinter der Gruppe im ersten Raum lässt sich ein Organigramm des ARA ausmachen, daneben finden sich Kisten mit unterschiedlichen Aufschriften, die aber wohl alle Kondensmilch enthalten.
Die Organisation hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg das Ziel gesetzt, die katastrophale Ernährungssituation der Bevölkerung der europäischen Länder nach dem Ende des Krieges zu verbessern. Vor allem sollte dabei Kindern geholfen werden, die nach dem Krieg vielfach unterernährt waren. Durch das amerikanische Kinderhilfswerk, wie es in Österreich oftmals bezeichnet wurden, erhielten hunderttausende Kinder in Österreich und anderen europäischen Ländern Essen und Lebensmittel. Zur Anwendung kam dabei die sog. Pelidisi-Formel des österreichischen Arztes Clemens Peter Freiherr von Pirquet, das auf der Basis des Zusammenhanges von Körpergewicht und Sitzhöhe von Kindern, den Grad der Unterernährung bestimmte.
In Tirol gab es dazu ein eigenes Landeskommissariat des Kinderhilfswerk, das im Sommer 1919 seine Arbeit aufnahm und die Hilfe regional koordinierte – es ist also möglich, dass das Foto dort aufgenommen worden ist. Von 1919 bis zu seinem Tod leitete das regionale Büro Santitätsinspektor Hans Witsch. Die Mitteilungen der American Relief Administration geben für 1920 an, dass in Tirol täglich etwa 14.600 Kinder eine warme Mahlzeit erhalten haben. 1921 waren es sogar 18.000. Zwei Jahre später waren es noch etwa 1.000 Kinder täglich. Dazu kamen vielfach noch Kleiderspenden, so wurden allein in Tirol bis 1921 ca. 6.000 Paar Schuhe verteilt. Ab 1922 unterstützte die ARA auch gezielt den Mittelstand und nicht zuletzt auch Professoren und Studenten, wohl um die Eliten des Landes von der positiven Rolle Amerikas zu überzeugen.
Einen guten Einblick in die Arbeit des ARA geben die Mitteilungen der American Relief Administration sowie das Buch: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in den Ländern Österreichs (Sommer 1921). Digital gibt es außerdem: A review of the work of the American Relief Administration in Austria, year 1922–1923. (hier, aber die Seite funktioniert nur in den USA bzw. mit einem VPN) In allen Publikationen finden sich auch mehrere Bilder von Innsbruck oder Tirol, wobei besonders ein Bild besonders eindrücklich ist, das eine lange Schlange von Kindern zeigt, die auf die Ausgabe von Kleidern und Schuhen in der Knabenbürgerschule warten.
(Stadtarchiv/Stadtmuseum RM-PL-0417)