Winterliches Kurrentgestöber
Beim ziellosen Durchstöbern unsrer Archivdatenbank ist mir heute ein Bildchen ins Auge gefallen, dass vielleicht aus historischer Perspektive keinen besonderen Wert besitzen mag; weil es jedoch meinem eigenen ästhetischen Empfinden in hohem Maße entsprach, hielt ich es für unverantwortlich, Ihnen seinen Anblick vorzuenthalten.
Zu sehen ist die Seitenwand der Innsbrucker Hofkirche, vor deren Hintergrund die schwarze Silhouette eines Mannes durch den reinweißen Schnee stapft. Wobei wir es wohl der überschäumenden Mitteilungsbedürftigkeit des Postkartenschreibers zu danken haben, dass „reinweiß“ als Beschreibung der bodennahen Verhältnisse nicht so recht taugt: Ist es dem Absender doch offenkundig nicht gelungen, seiner Schreibwut Herr zu werden, ehe die Flut seiner vornehm geschwungenen Kurrentschrift von der dicht beschriebenen Rück- auch auf die Vorderseite der Karte überschwappte.
Genau diese buchstäbliche Kultivierung des sonst eher eintönigen Bodenbelags ist es nun aber, welche in meinen Augen den ungeheuren ästhetischen Reiz der Bildkomposition ausmacht. Wie sehen Sie das? Spricht die Karte auch ihr künstlerisches Empfinden an?
Übrigens: Falls Sie nicht nur an der äußeren Erscheinung, sondern zudem am Inhalt der Karte interessiert sind, seien Sie herzlich eingeladen, sich an der Entzifferung zu versuchen.
Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck (Ph-34861)
Autor: Julian Mosbacher
Der Absender ist der Bundesbahn-Oberoffizial Karl Randl, wohnhaft in der Pradler Straße 59.
Der Empfänger Ing. Hubert Rösner wohnte in Innsbruck in der Andreas-Hofer-Straße 49 und übersiedelte später nach Linz.
Da hat sich Herr Randl zu Beginn seines Schreibens ein wenig verschätzt, wenn er meinte, dass diese Karte leicht ausreichen würde. So gesehen war der viele Schnee nicht nur für die übermittelten Weihnachtsgrüße passend, auch als zusätzlicher Schreibuntergrund hat er gedient. Letztlich hat der Platz dann doch gereicht, es wären sich sogar noch ein paar Buchstaben mehr im Schnee ausgegangen …
Innsbruck, 20. Dez. 1935.
Geehrter Herr Ing. Rösler!
Gern hätte ich Ihnen einmal Vieles u. Interessantes in Form eines endslangen Briefes berichtet, jedoch ist bei uns heuer so gar nichts von Bedeutung vorgefallen, dass diese Karte leicht ausreicht.
Außer unserer silbernen Hochzeit, die wir im Juni ganz still und bescheiden gefeiert haben, (nicht einmal der Sebald war dabei) – und einigen kleinen Partieen im Sommer ist von unseren Unternehmungen nichts zu vermelden. – Gesundheitlich sind wir beide mit dem heurigen Jahr auch nicht so recht zufrieden gewesen, – wir sind eben auch längst über dem Berg und gehen bald dem „Schattenreich“ entgegen! Bin ich doch schon seit 10 ½ Jahren im Ruhestand. – Sebald ist noch postenlos und ist „derweil“ Musikstudent am hiesigen Conservatorium, (Kapellmeisterkurs). – Unsere B. B. Direktion hier ist jetzt so zusammengeschmolzen, dass sie kaum die Hälfte des Gebäudes benötigt. – Hoffentlich sind Sie samt Familie gesund und guter Dinge.
Wenn es Ihnen möglich wäre, so würde es mich besonders freuen, von Ihnen einmal einige Zeilen über Ihr Befinden und Ihr Tun zu erhalten; 3 Jahre schon sind Sie fort von hier, und über 1 Jahr schon haben wir Sie nicht mehr gesehen!!! Ich kann es noch immer nicht verwinden, daß gerade Sie haben fortziehen müssen. – (Auf dem einst von Ihnen betreuten Garten an der Bahnstrecke hat sich bereits ein Siedler mit einem Häuschen niedergelassen.)
Ihnen, sowie lb. Angehörigen wünschen wir recht frohe Weihnachten und aus ganzem Herzen ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr in Glück und Segen! Für mich selbst besteht im Geheimen der intensive Wunsch, Sie im kommenden Jahr hier wiedersehen zu können!
Herzl. Grüße von mir und den Meinen und verbleibe stets in alter Ergebenheit Ihr Karl Randl.
Herzlichen Dank Frau Stolz für die ‚Übersetzung‘ der schönen Kurrentschrift. Ich selbst begann sie bereits sie zu entziffern, war aber froh entdeckt zu haben, dass Sie sich bereits die Mühe machten.
Ich finde die Karte tatsächlich ebenfalls melancholisch schön, auch oder vielleicht gerade weil diese Ästhetik ungeplant entstand.
Auch der Inhalt scheint der selben Melancholie zu folgen wenn der Schreiber die Versetzung seines vermutlich ehemaligen Arbeitskollegen immer noch bedauert. Ob sein mittlerweile besiedelter Garten wohl im Sieglanger zu finden wäre? Die erwähnte Bundesbahn Direktion, deren Personal lt. Brief so zusammenschmolz, wird jedenfalls einige Jahre später am Nordflügel entlang der Bienerstrasse durch einen Zubau sogar noch vergrößert werden. Ob bei ‚unseren‘ Freunden deshalb große Freude aufkam darf bezweifelt werden, es begann bereits die unrühmliche Reichsbahn-Periode.
Die melancholische Ästhetik der gesamten Postkarte vom Motiv über die Beschriftung bis zum Inhalt scheint von tragischer Vorahnung getragen.