8 Monate anno 1902 (51)
Nach dem „nicht allzu leckeren Mittagessen“ der Vorwoche ging es von Mötz nach Stams. Wie Marie abschließend gesteht, war dies ihre „erste Entdeckungsreise ins Oberinnthal„. Überraschend, wenn man bedenkt, dass sie fast alljährlich ins Trentino reiste. Stichwort reisen: Auch zurück nach Hall wurde es die Dritte Klasse, diesmal aber zwischen Arbeitern, „daher sich die Heimfahrt weniger gut anschickte“. Ein Thema, über das ich auch einmal etwas mehr lesen sollte, ist die Logistik von Besuchen. Ich war eigentlich der Meinung, dass es sich in jenen telefonlosen Tagen gebot, sich stets anzukündigen und niemanden einfach zu überfallen. Im Hause Posch liefen die Dinge aber offenbar ganz anders, sodass Marie bei ihrer Rückkehr eine „schrecklich unliebsame“ Überraschung erlebte…
[22. Sept. 1902, Fortsetzung] Nach demselben wurde gleich nach Stams gegangen; zuerst führte uns der Weg über den Inn, dann durch grüne Wiesen zwischen vereinzelnten hohen Eichen, während weiter gegen den Berg hin, ganze Wälder hievon standen. In 1/2 Stunden waren wir an Ort und Stelle u. ließen uns um von Frau Mutter, später von Wirtschäfterin alles erklären. Wir traten in die schöne Kirche; das Chor ist durch ein schmiedeisernes Gitter vom Inneren getrennt; gleich dahinter ist der Eingang zur Kaisergruft; bekanntlich wurde das Kloster ja von Kaiserin Elisabeth, der Gemahlin Konrads von Hohenstaufen, gestiftet u. liegt sowohl sie als auch ihr Mann u. Sohn, der junge Konradin dort begraben. Der Eindruck ist sehr imposant. Fr. Mutter bestellte bei der Wirtschäfterin Zwiebel für unseren Wintergebrauch u. wurde so mit ihr bekannt. Selbe führte uns nun in den sog. Bernardi-Saal, einen großen Saal, die Wände mit Bildern aus dem Leben des hl. Bernhard mit überlebensgroßen Figuren geschmückt. An der einen Langseite, vis-à-vis den großen Fenstern, ist ein Kamin, der jetzt als Kasten umgemodelt worden ist; daneben stehen 2 geschnitzte Mohrenknaben. Oben ist ein Aufbau, eine Laterne mit Fenstern u. Galerie herum; droben prangt ein wunderbares Gemälde in dunklen Farben, welches offenbar von andrer Hand u. zu andrer Zeit geschaffen wurde, als die übrigen Bilder des Saales. – Sehr schön ist die große Freitreppe, welche hinaufführt. An den Gittern auf Schmiedeisen sind bald Rosen, bald gelbe Glockenblumen kunstvoll eingearbeitet, die breiten Stufen zeigen auf der Unterseite rothen Ölfarbenstrich. Nun führte uns Fr. Mutter in den „Keller“ u. spendierte uns einen vorzüglichen „Magdalener“ u. Stamserlaibelen“, von denen wir eins mit nach Haus nahmen. Nun wurde in das entlegene Gasthaus gegangen, Kaffee trinken, ich jedoch zog vor, in Stams zurückzubleiben, um etwas zu skitzieren, dann kam ich nach, wie l. Fr. Mutter u. Margreth bereits bahnbereit waren, weshalb zur Haltstelle gegangen wurde, wo wir noch sehr lang warten mussten, dann eiligst einstiegen u. zwischen welchen Arbeitern einen armseligen Platz errangen, daher sich die Heimfahrt weniger gut anschickte. Endlich kamen wir nach Innsbruck, wo’s abermals zur Trambahn gieng, welche uns um 7h in Hall eintreffen ließ. Nun bedankten wir uns bei der guten Frau Mutter, welche uns diesen angenehmen Tag bereitet hat, u. verabschiedeten uns von ihr u. schritten eilig nach Andlklaus. Zu unserm nicht geringen Erstaunen befand sich dort Madame Orieux mit l. Tante Anna u. Onkel Nicolaus an dem einen Tisch, auf dem andern waren die beiden Schönwehrer-Leut u. Nannele. Mir war es schrecklich unliebsam, dass gerade heute diese Gäste kommen mussten. Noch dazu war vormittags Josef hier, später kam Jörgl u. nachmittags die beiden Frl. Niederwieser; L. Tante Anna hatte infolgedessen sehr viel zu thun. Madama Orieux gieng zur Tram um 1/2 9h. Dies war meine erste Entdeckungsreise ins Oberinnthal!Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, KR-PL-1162 (Innenraum der Klosterkirche des Stiftes Stams mit schmiedeeisernem Altargitter, undatiert).
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Die nach den hochheiligen Kirchenbesuchen geradezu postwendend erfolgte Konfrontation des Christenmenschen mit dem drittklassigen Proletariat war sicher absichtliche Prüfung von oben. „Darf ich auch einmal?“ fragte darauf hin ein Teufelchen und füllte das Haus mit Besuchern.
50 Jahre später war das mit den überraschenden Besuchen immer noch gleich, viele Haushalte, wie auch der unsrige, waren lange noch ohne Telefon. Man schaute halt auf gut Glück vorbei und wurde meistens mit fast schon peinlichem Jöööööööö-Geschrei willkommen geheißen. Vielleicht auch das eine oder andere mal unter Aufbietung geradezu übermenschlichen schauspielerischen Talents. Schlimmstenfalls gab es Ausreden der Kategorie „Ach, und ausgerechnet jetzt muß ich gleich weg, weil..“
Irgendwer war, zumindest an Wochentagen, fast immer zu Hause.
Danke für diesen Einblick Herr Hirsch. Ich nehme das als Hinweis auf den praktischen Wert gutbürgerlicher Benimmbücher. Ich habe zu Studienzeiten einmal eine Seminararbeit zu Verhaltensregeln aus Benimmbüchern der 1950er und -60er verfasst (und dazu einige erworben, die ich wohl irgendwo noch haben müsste) und erinnere mich sehr lebhaft, dass es laut dieser Literatur ein ziemliches No-Go war, einfach unangemeldet bei jemandem aufzutauchen. Aber wahrscheinlich muss man da unterscheiden, zwischen jenen, die tatsächlich Freunde sind, und jenen, die Bekannte sind…