8 Monate anno 1902 (26)
Was Marie sich letzte Woche im Eintrag vom 2. Juni 1902 wünschte, nämlich „die Thaurerschloß-Parthie„, wurde drei Tage später Realität. Mehr Worte will ich dazu gar nicht machen, denn Marie fand derer viele… – Wer am Ende Lust auf einen (Weihnachts)Spaziergang zur Ruine Thaur bekommt, der fände hier einen Vorschlag.
5. Juni, Donnerstag, Frohnleichnams-Octav. Die liebe Tante Anna und ich giengen nach Hall u. wohnten den um 7 Uhr stattfindenden Stadtevangelien bei; mir kam es dabei fast feierlicher vor als heute vor acht Tagen. Es war auch fast ganz Hall gegenwärtig. Nach denselben wohnten wir dem Hochamt bei u. trafen dann mit Madeleine, Babi u. Anna u. den beiden Bechtold-Fräuleins zusammen. Das Wetter war etwas trüb, jetzt aber schien die Sonne u. ließ auf einen schönen Nachmittag schließen. Rasch wurde deshalb der Ausflug nach Thaur für dahin bestimmt; wie freute ich mich darauf! Am obern Stadtplatz begegnete uns noch die gute Fr. Mutter, mit der wir den schwer kranken Weiss Hanns besuchen giengen. Wir langten an am reinlichen Häuschen in Breitweg[?] u. konnten vorsprechen. Inmitten weißer Kissen lag der gute Hanns im Bett u. hatte eine riesige Freude über unsern Besuch. Man kann sich von seiner Geduld und Ergebenheit kaum eine Vorstellung machen. „Kommt unser Herr, ist‘s recht, u. lässt er mich wieder gesund werden ist‘s mir auch recht“, sagte er öfters zu uns. Letzterer Fall wird jedoch kaum mehr sein, denn nach seiner eigenen Aussage, glaubt er, dass ihm etwa eine Woche noch gegeben sei. Ich war fast zu Thränen gerührt, schluckte sie aber mühsam hinunter. Nach einem ½ Stündchen beiläufig giengen wir fort von seinem Bette u. versprachen, im Vorbeigehen einmal wieder bei ihm zuzukehren. Wird es möglich sein, oder kehrt zuerst der Herr bei ihm zu? – Ich glaube, dass wir alle drei beim Abwärtsgehen von solchen oder ähnlichen Gedanken erfüllt waren! –
Beim Hallerhaus verabschiedeten wir uns von Frau Mutter u. giengen wieder in die obere Stadt, wo wir bei den Großtanten Besuch machten. Gegen ½ 12 Uhr langten wir in Andlklaus wieder an. Obschon das Wetter immer trüber wurde gieng ich doch nach Tisch gleich nach Hall zu Madeleine, mit der u. deren Schwester und Nichte ich mich dann auf den Thaurerweg machte. Wir giengen beim Häuschen des Director Schober hinauf, was mich rießig anheimelte. Gieng ich doch vor Jahren fast jede Woche diese idyllische Weglein bergan! Jetzt sind die kleinen Föhren von damals zu stattlichen Alleebäumen herangewachsen u. viele würden auch in mir nicht mehr das damalige kleine Mädchen wiedererkennen! – In ¾ Stunden war Thaur erreicht, nun begann der Aufstieg, den wir durch die Felsschlucht des „Thaurer Langen“ ausführten. Wir kraxelten allerdings nicht über die haushohen Steinwänden, welche neben uns aufragten; ganz bescheiden begnügten wir dem steilen Waldpfade nachzukommen, der uns jetzt mehr westlich, also dem eigentlich[en] Wege zu, führt. Rechts und links schoben sich Hügel an uns heran; die Bergseite war überwachsen von dunklem Laubwerk; nur dann und wann blickte das ruhige Grau eines epheuumrankten Felsens daraus hervor. Die linksseitige Wiesenhöhe zeigte jedoch einen ganz hochalpinen Charakter, ähnlich den steilen „Mahdern“ von Stallsins. Wir pflückten manches der seltenen Blümlein, die violetten Sterne der Bergastern, u. dergleichen.
Nun kam der Bau der kleinen Kapelle, in der eine lebenswahre Figur „Christus im Gefängniße“ sich befindet. O möchte doch jeder Sünder u. gottentfremdete Mensch einmal hieher kommen und dieses Angesicht betrachten, eine Zeit lang in diese Augen blicken! – Einige Schritte weiter vorwärts gelangen wir zur Felsengrotte „Christi Grab“. Hier bewunderten wir die ganze Idee, dann fielen unter den Ziergärtenereien davor besonders 2 rosablühende Schlehdornbäume auf, welche Sorte wir heute schon Gelegenheit hatten anzustaunen. Vis-à-vis, auf einer kleinen Anhöhe, thalwärts steht eine kleine Kuppelkapelle mit der Kreuzigungsgruppe.
Nun schreiten wir durchs zinnengekrönte, sagenumwobene Thor. Eine renovierte Inschrift läßt im Geiste vergang‘ner Zeiten gedenken; sie lautet:
Rittersleut‘ und Frawelein,
Gestrenge Herrn und Knappen
Zogen allhier aus und ein,
Bis der Tod sie thät‘ ertappen.
3 Wappen sind angebracht; wie ich glaube, sind es die 3 Thürme Thaur‘s, dann der sternüberragte Berg der Sternbach‘s u. Tirols rother Adler. Da wir zur Ruine Tovre[?] gelangen wollten, ließen wir vorderhand das Romedikirchlein rechts liegen u. bogen wieder in die Schlucht ein. Vereinzelt erklommen wir nun den steilen Schlossberg u. besichtigten die Ciklopenmauern des alten Schlosses. Wir wagten uns auch hinein in den zerfall‘nen Rundthurm u. blickten hinaus durch die tiefen Schussscharten ins neblige Thal. In die Mauerreste des Hauptschlosses einzudringen war trotz der hineinführenden Thorwölbungen unmöglich, denn leider waren dieselben mit Reisig fest vermacht. Es sah wohl auch nicht sonderlich interessant da innen aus, denn ein grüner Rasenteppich lag über den einstigen Prunkgemächern, von denen keine Spur nur[?] sichtbar ward. Spaten führte ich ebenfalls keinen bei mir, sodass ich einige „archäologische“ Funde hätte machen können. Infolge dessen beschränkte ich mich, einen Theil der Ruine in mein Skitzenbuch zu zeichnen.
Nebenbei erquickten wir uns an Salami u. Brot u. an historischen Gesprächen. Es war so idyllisch, wie wir 4 so allein, so ganz allein, auf diesem denkwürdigen Plätzchen Erde waren! Nach 1 stündigem Aufenthalt wurde das Schlossthal verlassen, u. wir machten nun der Peterskirche einen Besuch. Ich konnte mich dabei als Cicerone* ganz nützlich zeigen. Auf dem Hochaltar prangt das Haupt des Hl. Bischofs Vigilius, in dessen Diocese bekanntlich St. Romedius starb. Den Plafond deckt ein scheinbares Kuppelbild in schönem Fresco gemalt, unsern Herrn vorstellend, dem hl. Petrus die Himmelsschlüssel übergebend. An den Ecken sind 4 Medaillons je 2 „Beruf“, und „Tod“ des hl. Petrus u. Paulus vorstellend. Den linken Seitenaltar bildet ein Ölgemälde, unter dem etwas so Ähnliches steht: Hedewiga (oder Chlodewige) Gräffin zu Thaur u. Abtissin des Stiftes [Leerstelle; hier wollte Marie wohl den Namen nachtragen]. Rechts ist ebenfalls ein gleiches Gemälde, den Beichtvater dieser Seligen vorstellend. – Anstatt der Fastenkrippe war ein Evangelium aufgemacht. Wir besuchten dann auch die Einsiedelei, dann eilten wir befriedigt über das Gesehene dem Dorfe Thaur zu. Wir wollten uns beim „Stangl“ mit einem Gläschen Wein stärken, kamen aber vorerst zur größten Heiterkeit aller in ein falsches Haus, wo wir nur Schnaps bekommen hätten. Wir wanderten deshalb weiter u. machten auch der Pfarrkirche einen Besuch; ich musste wirklich staunen über den edlen Stil der Renaissance-Altäre in derselben.
Nun fanden wir auch den richtigen „Stangl“ u. rasteten dort bei 1l „Special“ von den Strapazen aus, um dann neu gestärkt, nach Hall zu eilen. Frohen Muts legten wir den Weg zurück, durchquerten Heiligkreuz, u. trennten uns erste beim Münzerthor. Ich eilte nun noch schneller in die Villa Andlklaus, wobei ich aber bei Frau Svedic stehen bleiben musste u. ein wenig sprach. Glücklich zuhause angekommen, freute ich mich riesig der heutigen Partie. Dieser Tag war so recht nach meinem Geschmack; möge der Sommer noch so manchen dieser Art mir u. uns allen bringen! –
* „Cicerone ist eine Bezeichnung für einen Fremdenführer, der Touristen und Besucher zu Museen, Sehenswürdigkeiten usw. führt und archäologische, historische und künstlerische Hintergründe erläutert.“ (wikipedia)
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bilder: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Ph-11994; Ph-G-24891.
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