8 Monate anno 1902 (35)
Über die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens wird laufend viel geschrieben und gesagt, und häufig ein konstanter Abwärtstrend konstatiert. Positiv formuliert ist wohl ein mit der technischen Entwicklung einhergehender Wandel nicht von der Hand zu weisen. Es werden weniger Bücher gelesen und mehr an Bildschirmen gelesen oder geschaut. Es wird mehr in diversen Kurznachrichten kommuniziert als in langen Briefen oder E-Mails. Und wie viel an Gedichten wird eigentlich noch auswendig gelernt? Und welchen Sinn hätte dies überhaupt, abgesehen von Gehirntraining, wenn man ohnehin per Handy ständig alles nachschlagen kann? Damit einhergehend: Wie steht es um die Fertigkeiten der jüngeren Generationen, selbst zu reimen? Zumindest in Büchern für (Klein)Kinder kommt man an Reimen eigentlich nicht vorbei und experimentiert dann auch kreativ, oder? Und an runden Geburtstagen sowie anderen festlichen Anlässen rauchen die Köpfe auch häufig in diese Richtung. Also, alles ist wohl noch länger nicht verloren. Aber auf jeden Fall erscheint es durchaus beeindruckend, was sich Marie et al. für Tante Annas Namenstag ausgedacht haben.
Als Rätsel habe ich diesen Beitrag übrigens auch markiert. Was ein „ein Milieu im weißem Satin“ ist und wie „Margueriten à la Richelieu“ aussehen, hätte mich eigentlich schon interessiert, aber meine Onlinesuche war recht erfolglos…
23.VII.1902, Mitwoch. Heute früh konnte Margreth infolge Rothlaufes nicht aufstehen. Ich kochte, musste aber nebenbei das Geschenk für l. Frau Mutter verfertigen: die Fotografie der Wetterburg in einem mit Alpenblumen verzierten Rahmen. Da Anton morgen früh wieder geht, musste es heute noch fix u. fertig werden. Gestern kam Huisign Hansele mit 1 Flasche Branntwein, später sein Bruder Tommele mit Aviso für 1 recomandierten Brief. – Heute mittags kam Schulleiter Schober, aß hier u. gieng gegen 4h abends heim ins Volderbad.
24. [Juni 1902] Donnerstag. Hr. Muigg bleibt hier; ich kochte weiter und stickte dann.
25.VII [1902], Jacobi-Tag. Margreth stand heute auf; wir hatten noch das Milieu zu l. Tante Anna‘s Namenstag fertigzustellen; abends wusch u. bügelte ich es, dann begannen die Vorbereitungen z. Tableau. Als l. Onkel Nicolaus nach der Abendjagd heimkehrte, begann im Fremdenzimmer die Vorstellung, die Huldigung Tulfein‘s an die neue Bergkönigin, l. T. Anna. Hr. Muigg war König Tulfeinus, Margreth u. ich seine Töchter, welche Alpenrosen wanden. Madeleine führte die bengalische Beleuchtung aus. Die Verse lauteten:
Nun endlich ist sie aufgewacht
Bei Sternenglanz und Schimmer
Die langersehnte Annanacht,
Heraus aus Haus und Zimmer!!!
—
Nur einmal im Jahre sehen die Menschen
Des Rosenkönigs Reich
Wenn auf den Alpen die Rosen flammen,
Um dann zu erlöschen ganz gleich.
Ja, ‘s ist am Tag vor Anna,
Da feiert hier ihr Fest
Ein Musterbild der Frauen,
Der wünschen sie das Allerbest!
Denn sie befreit von Zauberbanden
Tulfeinus‘ Reich und Schloss,
Der wild ergrämt, der Menschen Tücke
Beweint sammt seinen Tross.
Denn vor vielen tausend Jahren
Stand hier ein Schloss in holder Pracht,
Tulfeinus, unser Vater, herrschte
Weitum, in unumschränkter Macht.
Die Rosen waren seine Freude, –
Die Rosen, – ach, sie sind so schön –
Da kam ein Tag, an dem sein Zorn
Das ganze Schloss hieß untergeh‘n.
Und Stein u. Schutt deckt jetzt die Stätten,
Wo glücklich wir geweilt so lang;
Wir Schwestern webten stumm u. spannen
den gold‘nen Faden emsig lang.
Da, endlich reichte er hinab
In eine schöne Stadt am Inn
Und traf hinein in‘s edle Herz
Der jetz‘gen Bergeskönigin.
Das Alpenglüh‘n zog sie herauf
In unsern heil‘gen Wald,
Ihr musterhafter Lebenslauf
Im Umkreis weit erschallt.
Erfreut ob solcher Menschen,
Besänftigt sich der Herr,
Und jährlich einmal schwindet
der Zauber nun vom Tulferberg. –
– Nun Schwester, hilf den Kranz vollenden
Den unsere Dankbarkeit ihr bringt!
Es leb‘ die neue Königin,
Dass es im Thale klingt!!!
(Tulfeinus:) Kinder, was macht Euer Kranz,
Habt Ihr ihn schön gewunden?
Habt Ihr der Rosen dunkler Pracht
Im Berg genug gefunden? –
(Die Töchter:) Vollendet ist die Gabe,
Wir eilen nun mit Dir
Und bringen diesen Kranz aus Rosen
Als Gruß vom Bergrevier!
(Alle:) Hör‘ unsern Glückwunsch, hohe Frau:
Es mögen Rosen blühen
Dir und den Deinen jederzeit.
Solang‘ die Sterne glühen,
Solang der Sonne lichter Schein
Erwärmte der Erd‘ Gesicht!!
Ja, mög‘st Du immer glücklich sein,
In reinster Freude Licht!!!
Leider musste ich dabei lachen, denn, sobald Madeleine ein Streichholz anzündete, war‘s mit meinem Ernst dahin.
Wir überreichten nun der Gefeierten einen Strauß u. Kranz von duftenden Alpenrosen, sowie meine Gabe, ein Milieu im weißem Satin, mit Margueriten à la Richelieu bestickt. L. Tante Anna war sehr erfreut darüber; es gefiel ganz gut. Wir blieben noch einige Zeit in der Küche, dann gieng‘s ins Bett. Ein wolkenloser Abendhimmel, ließ auf ein schönes „morgen“ schließen.
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Slg. Günter Sommer, Bd. 46, Nr. 6 (Ansichtskarte des Deutschen Schulvereins, Nr. 347, ca. 1905-1913).
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Das milieu übersetze ich mit Trägermaterial (aus Satin, für die Stickerei), das Rtchelieu gehört zur Stickerei, nicht zu den Margeriten. Das ist diese Arbeit mit den Löchern im Stoff, die man am Rand mit Stickerei umgibt. Kann man googeln 😉
Richelieu-Stickerei heißt diese spezielle Handarbeitstechnik und ist eine Form der Lochstickerei. Es werden nicht Löcher umstickt, sondern die Reihenfolge ist umgekehrt – zuerst wird das Muster gestickt und dann die „Löcher“ mit einer scharfen Stickschere ausgeschnitten.
Die liebe Tante Anna hat sich über den König Tulfeinus bestimmt sehr gefreut! So hat Tante Anna ausgeschaut:
http://sterbebilder.schwemberger.at/picture.php?/47512/search/125986
Nur dass sie damals noch nur halb so alt war. 😉
Vielleicht kann man das Foto ja mit einer Fotobearbeitungssoftware jünger machen….
Danke für die fachkundigen Informationen zum „Kardinal“. 😉 Ja, Herr Hirsch, Sie haben recht, dass man das googeln kann – sobald man, wie Sie und Barbara weiß bzw. versteht, dass es sich dabei um eine Sticktechnik, nicht um ein Muster handelt. Denn mit ‚Margeriten Richelieu‘ oder ‚Muster Richelieu‘ war nichts zu machen. Wissen ist eben Macht. 😉
So finde ich es jetzt auch, z.B.: https://varvarahome.de/de/naehen-sticken/richelieu-stickerei