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Vergangene Zukunftsvisionen: Der Passeiertunnel

Vergangene Zukunftsvisionen: Der Passeiertunnel

Fünf Jahre ist es inzwischen her, seit dem offiziellen Baubeginn der Hauptröhren für den Brennerbasistunnel (BBT). Und 10 bis 15 Jahre dürfte es noch dauern, bis die neue Stecke in Betrieb gehen wird. Wäre man den Visionen eines jungen Innsbrucker Architekten gefolgt, würde der Brennerbasistunnel – pardon der Passeiertunnel – bald seinen 100. Geburtstag feiern. Und Innsbruck sähe heute ein kleines bisschen anders aus.

Nicht einmal ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als in Innsbruck noch Mangel und Hunger herrschten, wälzten hiesige Architekten bereits große Zukunftspläne. Ingenieur Dr. Anton Nagy präsentierte in der Bozner Zeitung seinen Vorschlag einer Streckenerneuerung der Brennerbahn, dem bald darauf ein Alternativprojekt von Heinrich Schneider-Manns-Au (1896–1984) folgte. Der Allgemeine Tiroler Anzeiger gab ihm auf seiner Titelseite vom 22. und 23. Oktober 1919 breiten Raum:

„Nach menschlichem Ermessen dürfte künftighin der Verkehr in der Richtung Nord-Süd und umgekehrt einen großen Aufschwung nehmen,“ bewies Schneider-Manns-Au seherische Qualitäten. Deshalb sollte es im Interesse aller, insbesondere aber im Interesse seiner Heimatstadt liegen, „die kürzeste Nordsüdverbindung über Innsbruck festzustellen und ehebaldigst auszubauen“.

Seine Lösung: „Vom Nordportal in den Felsen westlich Mentelberg am Inn in gerader Richtung nach St. Martin im Passeier.“ Dieser Tunnel wäre mit 53 Kilometer doppelt so lang wie der damals längste Tunnel der Welt (der Simplontunnel) gewesen und dennoch „im Bereiche des Möglichen sowohl, als auch im Rahmen des Zweckmäßigen“.

Die Ideen des 23-Jährigen lesen sich eigentlich zu gut, um wahr sein zu können: Die Kosten beliefen sich auf 130 Millionen Kronen (umgerechnet läppische 70 Millionen Euro). Im Idealfall könnte man an 10 Teilstrecken gleichzeitig bauen und den Passeiertunnel in nur 5 Jahren fertigstellen. Würde man von nur zwei Seiten aufeinander zu bohren, würde dies hingegen 17 ½ Jahre dauern – also ziemlich genau jene Zeit, die auch für den derzeitigen Brennerbasistunnel projektiert sind.

Die Fahrzeit von Innsbruck nach Bozen mit der dampfbetriebenen Brennerbahn (die erst 1928/29 weitgehend elektrifiziert wurde), betrug damals 3 ½ bis 5 Stunden. Die neuen elektrischen Züge durch den Passeiertunnel und das Etschtal sollten nur noch 1 ½ Stunden benötigen – sogar eine halbe Stunde schneller, als die modernen Züge des Jahres 2020. Weil der Tunnel praktisch ebenerdig verlief, würden enormen Mengen an Energie gespart; zudem könnte die benötigte Elektrizität mittels Schächten und Niederschlag im Tunnelgebiet produziert werden. Auch die Belüftung des Tunnels würde durch Schächte ganz von allein funktionieren.

Unbegrenzte Möglichkeiten: Beim Mentlberg stößt der Passeiertunnel ins Inntal und im Bereich des alten Tiergartens entstünde der neue Hauptbahnhof. Den Inn könnte man dafür ein ganzes Stück weiter nach Norden in unverbautes Gebiet verlegen.

Hätte dieses Projekt tatsächlich erfolgreich umgesetzt werden können, hätte es nicht nur den Nord-Süd-Verkehr revolutioniert, sondern auch das Stadtbild und die Stadtentwicklung Innsbrucks nachhaltig verändert: Ein neuer Innsbrucker Hauptbahnhof sollte „zwischen dem Bahnhof Hötting und dem alten Tiergarten“ errichtet werden. Womöglich hätten wir heute also Flughafen und Hauptbahnhof in unmittelbarer Nähe. Wobei für den neuen Hauptbahnhof in der Nähe des unverbauten Inns noch einige kleinere Adaptierunge nötig gewesen wären:

„Wegen des hohen Grundwasserspiegels des neuen Bahnhofterrains wäre eine sehr umfangreiche Anschüttung notwendig. Um diese kostspieligen Arbeiten zu ersparen, erscheint es am Einfachsten und Zweckmäßigsten, den Inn von Kranebitten — gleichlaufend mit der Zirler Reichsstraße — bis in die Nähe der neuen Universität umzulegen. Hiedurch würden: der Grundwasserspiegel genügend tief abgesenkt und gleichzeitig eine zur Krafterzeugung verwertbare Gefällstufe von 5 Metern, sowie wertvoller Baugrund gewonnen werden.

Die Schottermassen aus dem neuen Innbett (zirka eineinhalb Millionen Kubikmeter) würden größtenteils für die Bahnanlagen aufgebraucht werden, der Rest wäre für Straßen- und Privatbauten verfügbar. Für Eisenbahn und Straßen entfiele die Notwendigkeit, den dermaligen Innlauf zu überbrücken; das aufgelassene Bett könnte für Fischzucht- und sonstige Anlagen ausgenützt werden.“

Aber damit nicht genug. Ein Tunnel ist kein Tunnel, wie es so schön heißt. Der junge Schneider-Manns-Au wies abschließend auf mögliche Folgeprojekte hin: Nach Fertigstellung des Passeiertunnels käme bei „erreichter voller Belastung der Mittenwaldbahn die Erbauung eines ‚Wettersteintunnels‘ (Telfs-Garmischpartenkirchen, 17,8 Kilometer lang) […] sowie auf der Südseite das alte Projekt eines ‚Ortlertunnels‘ in Betracht.“

(Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Slg. Günter Sommer, Bd. 2, Nr. 87; KR/PL-1576)

Dieser Beitrag hat einen Kommentar
  1. Danke für diesen interessanten Aufsatz über eine mir bisher unbekannte frühe Projektidee. Dass die Umsetzungsparameter nicht unbedingt realistisch waren, dürfte erfahrenen Ingenieur*innen schon damals aufgefallen sein, weswegen eine Realisierung wohl in den folgenden Jahrzehnten auch nie breiter diskutiert wurde (ich nehme das zumindest an). Die Grundidee hielt sich aber, der Samen war gesät.

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