Zeitreise und Zeitgeist in der Innsbrucker Abgusssammlung
Unser Bild aus dem Jahr 1969 gewährt uns einen Blick in die Sammlung von Originalen und Kopien griechischer und römischer Kunstwerke der Universität Innsbruck. 1869 als k. u. k. Gipsmuseum gegründet, war der Ursprungsbestand von zunächst vierzig Objekten auf mehr als das Zehnfache ein halbes Jahrhundert später angewachsen. Die Kollektion wartete damals indes nicht mit einer repräsentativen und erschöpfenden Bandbreite antiker Kunst von Griechenland nach Rom und von der Bronzezeit bis in die Spätantike und darüber hinaus auf, wie wir dies heutzutage gewohnt sind. Stattdessen fokussierte sie sich im Wesentlichen auf jene Zeit, die man noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für maßgeblich, weil eben für klassisch in jeder Hinsicht, hielt: das griechische 5. Jahrhundert v. Chr. mit seinen überwiegend aus Athen stammenden, von Athenern gefertigten und athenische Sichtweisen und Themen widerspiegelnden Objekten.
Ursprünglich waren die Abgüsse in den Räumlichkeiten des Archäologischen Instituts in der Alten Universität zur Schau gestellt worden, das heißt in der Universitätsstraße am heutigen Karl-Rahner-Platz. Ab 1914 zog die Sammlung dann prominent in einen Raum der dritten Etage über der Aula und damit in den größten Saal des Universitätsneubaus am Innrain um. In den folgenden Jahrzehnten sollten sich noch mehrere Umzüge und Neuaufstellungen ereignen. Diesen Prozess, der mit dem baldigen Umzug des Instituts an den Inn noch lange nicht abgeschlossen ist, wollen wir hier jedoch nicht im Einzelnen nachzeichnen. Vielmehr wollen wir wieder zu unserer Aufnahme zurückkehren: Wir sehen einen Bereich mit vorklassischen griechischen Bildwerken, die noch wie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eng nebeneinander aufgestellt sind. Wie man es auch aus großen Gemäldegalerien oder Barockschlössern kennt, scheint ein gewisser horror vacui die Ausstellungsmacher verfolgt zu haben. Ebenso fällt auf, dass es hier um die natürliche Beleuchtung der Objekte nicht gerade optimal bestellt ist. Dafür sind die raumschmückenden klassizistischen Elemente umso besser zu erkennen. Aus heutiger Perspektive ist es für das betrachtende Auge entlastend und gedanklich weniger kanalisierend, dass derartiges klassizistisches Rankenwerk in den Ausstellungsräumen inzwischen großteils der Vergangenheit angehört und stattdessen die Objekte selbst sprechen dürfen. Die Innsbrucker Sammlung, die sich derzeit noch am Langen Weg befindet, macht hier keine Ausnahme.
In einem größeren Kontext betrachtet, ist unser Blick in einen Teil der Innsbrucker Abgusssammlung deswegen von besonderem Interesse, weil er in zweierlei Hinsicht verdeutlicht, dass sich hier – bei allem Klassizismus – Veränderungen abzeichneten. Denn einerseits sehen wir hier ganz massiv vorklassische Kunst, nachdem zuvor Archaisches überwiegend nur angeschafft worden war, um dem Hauptaugenmerk, das auf der Klassik gelegen hatte, ein Fundament zu geben. Dasselbe galt übrigens auch für nachklassische Stücke, die Römisches ebenso miteinschlossen. Andererseits macht die Sitzgruppe mit dem gemütlich-lockeren Charme der 60er-Jahre deutlich, dass das universitäre Museum nicht mehr ausschließlich ein Ort strenger Betrachtung im unangenehmen Stehen sein musste, sondern auch ein Ort zum Verweilen sein konnte. Zeitgemäßere Ausstellungs- und Raumnutzungskonzepte bahnen sich an. Denn die beiden Damen blättern vielleicht gerade in Literatur, die entweder schon ausliegt oder die sie sich mitgebracht haben. Und möglicherweise setzen sie sich in Anbetracht der alten Werke sogar gezielt mit modernen Künstlern wie Picasso auseinander. Dieser Avantgarde von Künstlern des letzten Jahrhunderts war es nämlich zu verdanken, dass vorklassische und vor allem auch sogenannte prähistorische, frühbronzezeitliche Objekte mit der Zeit endlich auch in den verdienten Rang von Kunst gelangen durften.
(Stadtarchiv/ Stadtmuseum Innsbruck, Ph-6133)
Autor: Hendrik Stanway