Défilé des désolés
Auf unserem Blog wurde schon Grundlegendes und Spezielles zu den schönen Innsbrucker, Höttinger, Pradler und Wiltener Neujahrs-Entschuldigungen geschrieben und eine ganze Reihe davon gepostet. Heute gibt es die (hier interaktiv zu betrachtende Fassung) des 1894er-Entschuldigungsposters, mit dem von Landkarten-Landeshauptmann Josef Schönegger für sein Standardwerk zur Stadtentwicklung bearbeiteten Plan von Innsbruck und Wilten (1893). Hierzu aus dem Werbetext:
Die Neujahrs-Entschuldigungskarte der Stadt Innsbruck für 1894 bringt den Plan von Innsbruck und der Nachbargemeinde Wilten im Jahre 1893. Sie gibt ein getreues, in einen kleinen Rahmen zusammengefasstes Bild von dem Aufschwunge, den beide Orte in den letzten Jahren genommen, und ist daher insbesondere für die längere Zeit in Innsbruck Ansäßigen sehr interessant.
— Die Gemeinde Wilten bietet als Neujahrs-Entschuldigungskarte eine Reproduction des Natter’schen Hoferstandbildes auf dem Berg Jsel. Beide Karten wurden im Atelier der strebsamen lithographischen Anstalt Redlich ausgeführt und sind zum geringen Preise von 50 kr. zu haben. Das Reinerträgnis fällt den Armenfonden der beiden Gemeinden zu.
Im Jahre 1894 kostete also eine Karte 50 Kreuzer, was mit den OeNB-Währungsrechner aus der Vergangenheit umgerechnet rund 10 Euro ausmachte. Etwas später, ab etwa 1900, wurde die Spende ja auch mit dem Adressbuch belohnt, da musste man z.B. im Jahr 1908 man schon 5 oder 4 Kronen – je nach Aufwand der Bindung – einplanen (das sind heute 40 bzw 30 Euro). In den Zeitungen liest sich das so:
(Das Adreßbuch der Landeshauptstadt I n n s b r u c k) und der Vororte Hötting und Mühlau für das Jahr 1908 ist als Neujahrs-Entschuldigung bereits erschienen und zum bisherigen Preise von 5 Kronen in festem Leinenband, und von 4 Kronen broschiert, im städtischen Armenamt, Rathaus ersten Stock rechts, Zimmer Nr. 17, zu haben. (…)
Das Erträgnis des Adreßbuches, welches nun in den elften Jahrgang tritt, fällt bekanntlich dem städtischen Armenfonde zu. Allein abgesehen von diesem humanitären Zwecke und von der Bestimmung des Buches als Enthebung von der Neujahrs-Gratulation ist das Adreßbuch heute ein unentbehrlicher Behelf für jedermann geworden und soll auf keinem Schreibtische fehlen.
Rund um die Jahreswende gab es dann stets als kollektives Danke die Liste der Spender:innen in der Zeitung, 1894 im Boten für Tirol auf ganze 8 Ausgaben aufgeteilt. In einer Stadt, die zu dieser Zeit noch unter 25.000 Einwohner:innen hatte, wurden immerhin 1189 Stück verkauft.
Wer war nun dieser Klub der sich so öffentlichkeitswirksam entschuldigenden Spender genau? Wenn man gelegentlich in den mittlerweile hervorragend OCR erkannten Zeitungen der ULB nach einzelnen Persönlichkeiten sucht, kommt man zur Erkenntnis, dass es meistens die selben Leute waren (viele davon waren sonst das ganze Jahr nie in der Zeitung). In erster Linie bildete die Beamten- und Lehrerschaft dieses rassemblement des regrettants, gefolgt vom niederen Adel, der im concours des coupables seine wohltätige Ader zeigte. Fast scheint es, als könnte man dem Spendenkeiler-Team bei der Arbeit zusehen: als aller-erstes kommt der ganze Lehrkörper der k.k. Ober-Real-Schule dran, danach eine frühe Gruppe von mittleren und höheren Beamten des Landhauses. Danach reiht sich die Priesterschaft in die parade des pardonnés, eine ganze Kooperatoren-Kooperative kauft im Beisein des Bischofs von Brixen und des Innsbrucker Stadtpfarrers die Pläne 164 bis 170. Wieder geht es in eine Schule, diesmal ins k.k. Staatsgymnasium, dann gleich zum Militär und Gericht, wo das tableau des tristes in die 300er Zahlen kommt. Eine zweite Beamten-Tranche wird bald von großteils landschaftlichen Ingenieuren erworben (es gibt ja auch einen sehr schönen Plan dazu). Gebärklinik, Lehrerbildunganstalt, Volksschule Dreiheiligen, dazwischen werden die auf den Wegen die entlang der Keiler-Routen liegenden Kaufleute heimgesucht – aus dieser Gruppe kaufen in diesem Jahr nicht allzu viele die Karte. Ein paar jüdische Familien (Stern und Dannhauser) spenden auch, ab Nummer 550 ist das adelige Damenstift an der Reihe, bald danach kaufen die Wolkenstein’schen Stiftsdamen en bloc. Die Universität wurde in den späten 700er Zahlen erreicht, dicht gefolgt von der Postdirection, die ihre excuses exprimées in den 800ern ankauft. Lokale Prominenz findet sich immer zwischen den Gruppen, wir lesen von Kustos Konrad Fischnaler, so gut wie alle Apotheker nehmen eine, schon ist die Ärzteschaft dran und sogar ein paar Vertreter der Juristerei kommen der Sammlung nicht aus. Ab etwa Nummer 1000 scheint es sich dann mit dem Verkauf zu ziehen, es gibt kaum noch ausmachbare Spendergruppen. Unter den letzten 50 der 1189 Spender muss sogar Drucker Redlich seine eigene Karte kaufen, und auch mein Neumarkter Ur-Urgroßvater Joseph Maria Pernter wurde „samt [wie meistens, namentlich ungenannter] Frau“ noch last minute Besitzer einer Neujahrs-Entschuldigungskarte.
Wer alt genug ist, erinnert sich an die langen Listen der Spender:innen für Licht ins Dunkel, die vor einigen Jahren im Schneckentempo und doch viel zu schnell um etwas lesen zu können im ORF Morgenprogramm durch die Röhrenfernseher gerollt wurden. Wahrscheinlich wurde der an Gesetzes-und Listenpublikationen reiche Bote von Tirol das ganze Jahr nicht so genau studiert wie in den Ausgaben rund um Silvester.