Bürgermeister? Nein danke! (I)
Vor kurzem hat uns Dr. Christian Sölder die Kopie eines Schreibens seines Vorfahren Joseph von Sölder zu Prakenstein an dessen Bruder aus dem Jänner 1858 zur Verfügung gestellt. In dem Brief berichtet Ersterer unter anderem davon, dass er die Wahl zum Innsbrucker Bürgermeister im Jahr zuvor abgelehnt habe. Da diese Episode aus der Innsbrucker Geschichte uns im Archiv nichts gesagt hat, haben wir uns gemeinsam mit Herrn Sölder ein wenig durch Akten und Gemeinderatsprotokolle gewühlt und die Geschichte einigermaßen rekonstruieren können. Sie führt uns in eine Umbruchszeit, was die Gemeindeverwaltung angeht, markiert sie doch jene Ära, in der die Gemeinden als kleinste Verwaltungseinheiten des Staates begründet wurden und zugleich das Bürgermeisteramt immer mehr zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden ist.
Um die Hintergründe der Geschichte verstehen zu können, ist es zunächst notwendig die damalige Rechtslage im Hinblick auf die Gemeinden zu kennen. Kaiser Franz Joseph hatte im März 1849 in Folge der 48er Revolution ein neues Gemeindegesetz provisorisch erlassen hat (RGBl. 170/1849). Das Gesetz war besonders durch die Aufhebung der Grundherrschaften, einer zentralen Folge der Revolution, notwendig geworden. Von nun an sollte gelten: „Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde“. Die Gemeinden sollten also die neuen kleinsten Verwaltungseinheiten der Monarchie bilden, denen ein Bürgermeister und eine Gemeinderat/Bürgerausschuss vorstand.
Ausgehend von diesem gesetzlichen Rahmen hat die Stadt Innsbruck ein eigenes Gemeindestatut erarbeitet, das der Kaiser im Juni 1850 bewilligt und mit Ministerialerlass vom 11. Juni 1850 bekannt gemacht worden ist. (Zu finden ist es in digitalisierter Form hier) Das Statut regelte, wer zur Gemeinde gehörte, welche Organe die Stadt besaß, wie diese gewählt wurden und welche Aufgaben diesen zukamen. Die zentrale Institution der Gemeinde war demnach der Bürgerausschuss, bestehend aus 36 Mitgliedern. Er vertrat die Gemeinde „in der Ausübung ihrer Rechte und Pflichten“ (§ 31). Der Bürgerausschuss wurde gewählt, wobei nur jene männlichen Bürger wahlberechtigt waren, die einen gewissen jährlichen Steuerbetrag leisteten. Das wurde als Zensuswahlrecht bezeichnet und war bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts üblich. Außerdem durften aktive und pensionierte Beamte, ansässige Offiziere, Pfarrer und Doktoren wählen. Die gesamte Wählerschaft war dabei in drei Klassen eingeteilt, wobei in der ersten Klasse jene vertreten waren, die am meisten Steuern zahlten, in der dritten Klasse landeten umgekehrt jene, die am wenigsten Steuern abführten. Da jede Wählerklasse zwölf Vertreter in den Ausschuss entsandte, bedeutete das auch, dass die Stimmen nicht gleich viel wert waren oder umgekehrt gesagt, der kleinere Teil der vermögenden Bürger besaß mehr Einfluss als der größere Teil der weniger Vermögenden und diejenigen Personen, die arm waren, hatten überhaupt keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bürgerausschusses. Ein deutlicher Unterschied zur heutigen Situation ist auch, dass ein Drittel des Ausschusses jährlich neu gewählt wurde, sodass es stets eine gewisse Kontinuität gab.
Der Bürgermeister wurde aus den Ausschussmitgliedern gewählt. Seine Amtszeit betrug drei Jahre. Er wurde in seiner Amtsführung vom Magistrat unterstützt, der aus vier unbesoldeten Mitgliedern des Bürgerausschusses und ein oder zwei besoldeten und unbefristet angestellten Magistratsräten bestand.
Der erste Bürgermeister, der auf diese Weise gewählt wurde, war der Advokat Anton Clemann (1807-1875), der seit den späten 1840er Jahren in der Innsbrucker Gemeindepolitik aktiv gewesen war und bis in die 1860er Jahre eine dominante Kraft im Ausschuss blieb. Er starb jedoch verarmt. Die Zeitung Das Vaterland charakterisierte ihn in einem Nachruf: „eine gefeierte Größe in Innsbruck, war ihm das traurige Los beschieden, die letzten Tage seines Lebens in drückender Dürftigkeit zu verbringen.“ Das Andenken an ihn ist wohl auch deshalb in der Stadt weitgehend vergessen. Wir besitzen kein Bild von ihm. In unserer Datenbank gibt es lediglich ein Foto seines Grabsteines auf dem Wiltener Kirchfriedhof. (Bei meinem jüngst erfolgten Besuch des Friedhofs konnte ich diesen allerdings nicht finden.)
Die neue gesetzliche Regelung war aber gerade in Kraft, ehe das Gemeindegesetz in Folge des Silvesterpatents 1851 teilweise ausgesetzt wurde. Die Amtszeiten der Gemeindefunktionäre wurden 1854 ohne Wahl bis zur Bewilligung eines neuen Gemeindegesetzes verlängert.
Anton Clemann war bereits im Jahr zuvor, 1853, von seinem Amt zurückgetreten. Ihm folgte aber nicht, wie es teilweise in der Literatur zu lesen ist, direkt Joseph Anton Neuner nach, sondern sein damaliger Stellvertreter Josef Ritter von Peer stand in der Folge an der Spitze der Gemeinde. Er wurde zwar verschiedentlich als Bürgermeister bezeichnet, formal blieb er aber stets Bürgermeister-Stellvertreter, der Posten des Bürgermeisters selbst blieb vakant. Als im Jahr 1857 auch Peer sein Amt niederlegte, stand die Gemeinde ohne Führung da. Der Gemeinderat fasste daher im Herbst 1857 den Beschluss, dass „die Wahl eine neuen Bürgermeisters-Stellvertreter nothwendig sey“.
Und nun kommt endlich auch Joseph Sölder ins Spiel, aber das lesen Sie im zweiten Teil der Serie.