Ausgang unbekannt
Wir blicken in die Leopoldstraße in Richtung Norden. Auch heute ist der Ort kurz vor dem Gasthaus Steneck noch eine bekannte Engstelle, jedoch verkehrt die Tram hier nicht mehr. Wie sich unsere abgelichtete Situation weiter entwickelt hat ist leider nicht bekannt. Wir können somit nur logische Schlussfolgerungen anstellen, weshalb sich meinem Empfinden nach drei verschiedene Szenarien (oder Theorien) aufdrängen.
Szenario 1
Der anständige Lenker des Bürgerbräu-Lkw lässt die Straßenbahn passieren, ehe dieser die Weiterfahrt aufnimmt. Der Straßenverkehr ist immerhin kein Ort für haarscharfe Aktionen.
Szenario 2
Wie allgemein hin bekannt sind Biertransporte wesentlich dringlicher als der öffentliche Transport von Menschen. Aus diesem Grund hat der Lkw Vorrang und setzt seine Reise auf Biegen und Brechen fort. Die Straßenbahn kann und muss warten!
Szenario 3
Der Triebfahrzeugführer ist ein alter Bekannter des Biertransporteurs und man hat sich darauf verständigt, dass am abgelichteten Ort kurz pausiert wird und ein Fass Bier gegen einen Stoß Fahrkarten getauscht wird.
Aus meiner Sicht alles plausible Erklärungen… Habe ich denn ein Szenario vergessen oder können Sie einem der möglichen Ausgänge beipflichten?
(Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Ph-2249)
Der LKW-Fahrer will weder eine Kollision mit der Straßenbahn noch mit dem Werbeschild der Firma Franz Rapp riskieren und entscheidet sich für den Retourgang. Der Fotograf konnte sich hoffentlich rechtzeitig auf den Gehsteig retten …
Da sind wieder einmal zwei völlig Überraschte auf einander gestoßen. Wenn beide ein wenig mehr Distanz gehalten hätten, tät sich der vorausschauend gefahrene Bierkutscher mit reversieren leichter.
Aber ich glaub, es geht sich sogar aus, die absolute Spurtreue einer Straßenbahn ermöglicht Begegnungen mit Millimeterabstand.
Nebenbei sieht man, dass es den Textil Rauscher schon damals gegeben hat, im kleinen Gebäude gegenüber konnte man den Meister Rapp in Heizungs- und Sanitärfragen zu Rate ziehen, und ja, Parfüm und Papier war damals parallel verkäuflich. Ein weiteres Schild steht vage erkennbar für die Firma Wurzer, ein Kohlenhändler im Hof. Schade, dass man nicht erkennen kann, was für ein Laden das war, an dem gleich die zwei Leuteln vorbeikommen.
Ich meine in dem Schaufenster (an dem gleich die zwei Leuteln vorbeikommen) Puppen zu erkennen. Im Adressbuch von 1964 findet man die Puppenerzeuger Leo und Brunhilde Korn, allerdings in der Leopoldstraße 30. Das wäre dann falsche Straßenseite und falsche Hausnummer. Fa. Rapp und Parfümerie Gaßler = Hnr. 21, Fa. Wurzer = Hnr. 23, dann müsste das „Puppenhaus“ 25 oder 27 sein, jedenfalls nicht 30.
Weiteres Szenario: Herr und Frau Korn haben im Hnr. 30 gewohnt und hier eine Art Vitrine gemietet.
Straßenbahnfahrer:
„Kannsch nit ausstellen ?“
Bierfahrer:
„I schun, aba Du nit „
Der Bierwagen Fahrer ist eine Fahrerin. Der Triebfahrzeugführer kann es nicht fassen, hält an, um sich zu vergewissern. Spricht die Dame an – nicht vielleicht doch ein verkleideter Mann? Der Wortwechsel bestätigt – eine Frau, noch dazu attraktiv. Der Triebfahrzeugführer ist ein Charmeur uund Hallodri – er versucht sich mit der Dame zu verabreden. Das geht nichht ganz so schnell – das müssen Fahrgäste und Bierkunden mangels Alternativen eben akzeptieren.
Vermeintlich spannende Szene, in Wahrheit aber damals recht alltäglich, zumal sich dort zeitenweise mehr als dreihundert Züge mehrerer Linien (2,3,4,6) mal in die eine und mal in die andere Richtung durchquetschten. Ich glaube, dass der Biertruck noch hastig aus dem lichten Raum der langsam, aber unerbittlich durchrollenden Straßenbahn hinauslenkt, rechts ist ja noch Platz, und nach weiteren zwei, drei Metern ein paar Sekunden warten wird, bis der Zug vorbeigefahren ist. Dass Straßenbahnen dort häufig wegen Gegenverkehrs stehenbleiben mussten, glaube ich nicht, und reversiert haben sie ganz sicher niemals; beides war im engen Fahrplan nicht drin. Wenn eine Tram dort wirklich mal durch unachtsame Straßenfahrzeuge zum Anhalten gezwungen wurde, gab es wohl ein Klingelkonzert und vielleicht ein paar in freundlichstem Innsbruckerisch gebrüllte Aufforderungen seitens des Bimfahrers, doch besser aufzupassen. Bei der Straßenbahn ging es seit jeher nicht beschaulich zu, Blumenpflücken am Trassenrand und Pläusche mit Passsant:innen waren allenfalls auf der Stubaitalbahn ein Thema, weil der ewig experimentelle Wechselstromantrieb längeren Zügen dort auch noch nach Jahrzehnten abschnittweise nicht viel mehr als Schrittgeschwindigkeit erlaubte.
So alltäglich die Szene aber auch gewesen sein mag, finde ich das Foto dennoch sehr interessant, weil diese Stelle nur selten mit Bahn fotografiert wurde. Deshalb wieder mal: danke dafür!