8 Monate anno 1902 (54)
Wer letzte Woche gefürchtet hat, das könnte schon der gänzliche Abschied gewesen sein, der darf beruhigt sein. Wer sich für heute eine spannende Reiseschilderung erwartet hat, wird aber leider enttäuscht. Auf das Abschiedsgedicht auf Tirol folgt gleich das Wiedersehensgedicht für Tirol, den „theuren Heimatgrunde“. Die zweieinhalb Wochen dazwischen, nicht der Rede wert! Eine echte Tirolerin eben. Nur Tirol ist das Wahre! 🙂 Aber halt, damit würden man Marie natürlich unrecht tun. „Lass in Folg‘ Dir nun erzählen, Wie’s in Frankreich mir gefiel!“, heißt es gegen Ende ihrer Zeilen. Nächste Woche also.
Die Einträge zeigen damit auf, dass Marie ihr Tagebuch zumindest auf diese Reise nicht mitnahm, sondern ihre Einträge unterwegs vorschrieb, oder Notizen machte, die sie anschließend in ihr Tagebuch übertrug. Was, das gibt es dann also in den folgenden Wochen.
Für heute können wir am Titelbild den theuren Heimatgrund, samt deren urwüchsiger Bevölkerung und tapferen Verteidigern bewundern. Und den Brunnen vor dem Fenster auf dem Platz, der plätschernd gold’ne Morgenlieder singt…
Innsbruck, den 26. October 1902.
Endlich habe ich Dich wieder,
Mein geliebtes Tagebuch!
Heute bin ich hier ganz müder,
Sag‘ Dir manchen fremden Spruch!
Auf dem theuren Heimatgrunde
Ließ ich lange Dich zurück,
Jetzt in sonn’ger Morgenstunde
Fällt auf Dich mein erster Blick!
Plätschernd fällt der Brunnen nieder,
Vor dem Fenster, auf dem Platz,
Singt gold’ne Morgenlieder,
Während am Papier ich kratz.
Reiche Länder, hohe Städte
Habe jetzo ich gesehen,
Berg und Seen um die Wette,
Doch’s Schönste war das Heimwärtsgehen.
Lass in Folg‘ Dir nun erzählen,
Wie’s in Frankreich mir gefiel!
Kannst den Schluss draus Dir dann wählen,
Was mein Kritzeln sagen will! –
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Ph-A-24359-002
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