Raison d’état
Die Idee, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, wo er leben und arbeiten will, sofern das Land seiner Wahl bereit ist ihn aufzunehmen, war dem Mittelalter und auch der frühen Neuzeit noch fremd. Man schuldete seine Loyalität dem Landesherrn als Person, das galt natürlich für Leibeigene, die ohnehin an das Land gebunden waren, aber auch für Freie.
Im 16. Jahrhundert stellte die Reformation viele alte Gewissheiten in Frage. Auf dem Reichstag von Augsburg 1555 wurden die Anhänger der Confessio Augustana innerhalb des Heiligen Römischen Reiches als (weitgehend) gleichberechtigt anerkannt. Den Fürsten wurde das Ius reformandi zugestanden, das Recht ihre Religion, für sich und ihren Herrschaftsbereich, frei zu wählen. Für Untertanen, die sich nun aber unter der Herrschaft eines andersgläubigen Herrn fanden, brachte der Augsburger Religionsfrieden das Ius emigrandi – im § 24 hieß es:
„Wo aber Unsere Untertanen oder die der Kurfürsten, Fürsten und Stände der alten
Religion oder der Augsburgischen Konfession anhängen und wegen dieser ihrer Religion aus
Unseren Landen, Fürstentümern, Städten oder Flecken oder aus denen der Kurfürsten, Fürsten
und Stände des Heiligen Reichs mit ihren Weibern und Kindern an andere Orte ziehen und
sich dort niederlassen wollen, soll ihnen ein solcher Ab- und Zuzug und auch der Verkauf
ihres Hab und Gut gegen einen angemessenen Abtrag ihrer Leibeigenschaft und Nachsteuer,
wie es an jedem Ort von Alters her üblich, überliefert und gehalten worden ist, ungehindert
möglich und gestattet sein, allerdings ohne Entschädigung für ihre Ehren und Pflichten. (…)“
Somit hatten Untertanen erstmals explizit das Recht, das Territorium ihres Herrn zu verlassen (obwohl es, wie im Text erwähnt, bereits vielerorts vorkam). Diese Bestimmung wurde allerdings nicht nur als Recht der Untertanen zur Auswanderung verstanden, sondern auch als Recht des Landesherrn, Andersgläubige auszuweisen.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde dieses Recht im § 30 des Westfälischen Friedens bestätigt. Durch die Zerstörungen des Krieges waren ganze Landstriche entvölkert worden und Fürsten bemühten sich, neue Untertanen zu gewinnen, um das Land wieder zu erschließen. Zu einer solchen Dynamik kam es auch zwischen Tirol und den schwäbischen Territorien. Protestanten wanderten in großer Zahl aus um das verheerte Land neu zu besiedeln.
Doch die neuen Freiheiten standen in Konflikt mit den Interessen der frühabsolutistischen Landesfürsten. Menschen waren im Sinne der Staatsräson eine Ressource, noch dazu eine, die durch dreißig Jahre Krieg knapp geworden war. Somit wurde vielerorts den Untertanen die Auswanderung erschwert oder verboten, obwohl diese, zumindest im Heiligen Römischen Reich, ihr Recht war. Ein Beispiel dafür ist das hier zu sehende Auswanderungsverbot, welches 1649 von Erzherzog Ferinand Karl (1625–1662) erlassen wurde, um die erwähnte Auswanderung nach Schwaben zu unterbinden.
(Signatur VO-1901)