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Ein Deserteursversteck In Mariahilf

Ein Deserteursversteck in Mariahilf

Im Zweiten Weltkrieg aus der deutschen Wehrmacht zu fliehen, nicht (mehr weiter) in Hitlers Krieg kämpfen zu wollen, bedeutete für Soldaten die Aufgabe jeglicher Sicherheit. Auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe. Das NS-Regime verlangte von den Soldaten bedingungslosen Gehorsam und Einsatz ihres Lebens, um das Ziel der deutschen Herrschaft über Europa zu erreichen. „Manneszucht“ lautete das eherne Prinzip der Wehrmacht, um die totale Aufopferungsbereitschaft als Norm durchzusetzen. Neben Drill und Propaganda verschärfte Hitler dafür auch das militärische Strafrecht. Neu war unter anderem das Delikt der „Wehrkraftzersetzung“. Damit wurde die Erfüllung der „Manneszucht“ zu einem Gebot für die gesamte „deutsche Volksgemeinschaft“. Reden oder Handeln gegen die Kampfbereitschaft war mit Zuchthaus- und in schweren Fällen mit der Todesstrafe bedroht. So sollten vor allem Frauen abgeschreckt werden, Ehemännern, Brüdern, Söhnen, Liebhabern, Verwandten und Bekannten beim Desertieren zu helfen.

Manche Deserteure versuchten sich für die Flucht neue Identitäten zuzulegen. Dafür benötigten sie Zugriff auf Blankodokumente, Amtsstempel und Lebensmittelkarten. Die 49-jährige Franziska Schütz arbeitete im Juli 1944 als Aufräumerin in der Innkaserne (Innrain 1). Sie wohnte nur wenige Minuten entfernt am anderen Innufer in der Mariahilfstraße 34. Ihre Nachbarin, die 65-jährige Hausfrau Karoline Neuner, versteckte zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung im selben Haus bereits seit fünf Monaten ihren Neffen, den 19-jährigen Deserteur Ernst Federspiel. Neuner hatte Federspiel bislang mit Lebensmittelkarten versorgt, die ihr die Mutter des Deserteurs Elisabeth Federspiel überließ. Diese lebte unterdessen von illegal bei bekannten Bäuerinnen beschafften Lebensmitteln. Ernst Federspiel, der bereits einen gescheiterten Fluchtversuch in die Schweiz hinter sich hatte, bat Franziska Schütz darum, in der Innkaserne ein Dienstsiegel der Sanitätsabteilung zu entwenden. Ihr Sohn, der im Wehrertüchtigungslager Maurach in Ausbildung war, steuerte einen weiteren Stempel bei, den er dort entwendet hatte. Beide Utensilien dienten Ernst Federspiel dazu, ein Soldbuch und Urlaubsscheine zu fälschen, die er für die folgende Flucht nach Kärnten benutzte.

Die spektakuläre Geschichte der Desertion von Ernst Federspiel dauerte fast zwei Jahre. Mehrfach gelang es ihm Festnahmen und Inhaftierungen in Kärnten und Tirol zu entkommen. Immer wurde er von Frauen unterstützt, von seiner Mutter Elisabeth, seiner Freundin Herta Flatscher und deren Mutter Genovefa, von seinen Schwestern Elisabeth Grundl und Emma Gstattner, von Verwandten wie Franziska Schütz, von Freundinnen und Bekannten. Fast alle wurden früher oder später von der Gestapo oder der Kripo festgenommen und vom Sondergericht Innsbruck zu Zuchthausstrafen verurteilt, die sie überlebten. Die Flucht Federspiels endete erst im März 1945, nachdem die Innsbrucker Kripo bei einer Razzia gegen Deserteure in verschiedenen Wohnungen insgesamt 29 Personen festgenommen hatte. Unter den 23 ZivilistInnen befanden sich 15 Frauen und Mädchen, die Federspiel und sechs weitere Deserteure unterstützt hatten. Bei einer der Festnahmen in einer Wohnung Am Roßsprung in Pradl wurde der Deserteur Alois Eberharter erschossen.

Franziska Schütz (Tiroler Landesarchiv).

Ernst Federspiel verurteilte das Gericht der Division 418 in Innsbruck zum Tode. Er starb am 21. April 1945 im Kugelhagel eines Exekutionskommandos der Wehrmacht im Steinbruch am Paschberg.

Herta Flatscher mit ihrem Freund Ernst Federspiel 1943 (Sammlung Christina Müller)

In der Forschung zu den Deserteuren der Wehrmacht blieb die Rolle von Frauen bislang unterbelichtet. Dabei ermöglichten in vielen Fällen gerade sie es, dass desertionsbereite Männer die maskuline Kriegskameradschaft hinter sich lassen und stattdessen auf Solidarität bauen konnten. Desertieren war in vielerlei Hinsicht eine Praxis der Grenzüberschreibung. Aus geschlechtshistorischer Sicht bedeutet diese Erkenntnis, den Übergang von maskuliner Kameradschaft zu Hilfsangeboten und der Solidarität von Frauen zu rekonstruieren und deren aktive Rolle in diesem widerständigen Prozess zu beleuchten. In der Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus blieben ihre Leistungen bislang weitgehend unberücksichtigt.

Ergebnisse der Forschungen zur NS-Militärjustiz und zu Deserteuren der Wehrmacht in Innsbruck werden bei der Veranstaltung „Wehrmachtsdeserteure in Innsbruck. Geschichte und Erinnerung“ am Donnerstag, 4. Mai 2023, um 18 Uhr im Bürgersaal, Altes Rathaus präsentiert und diskutiert.

Text: Peter Pirker

Titelbild: Copyright Markus Jenewein.

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