Die Phantomstraßenbahn des Ottmar Zieher – Teil 1/3
Zum Geleit:
Nachdem die letzte Beitragsserie von Manni Schneiderbauer zur „Waldbahn“ rege Begeisterung bei unseren LeserInnen (als auch unseren RedakteurInnen) hervorgerufen hat, freut es uns umso mehr, dass er uns für eine weitere Reihe kontaktiert hat. Worum es geht erklärt Ihnen der Gastautor in den nächsten Zeilen.
Das Phantom taucht auf
An einem kalten Dezemberabend des Jahres 2024 stieß ich beim Durchsehen gefilterter Search-Alerts zu historischen Abbildungen der Innsbrucker Tram auf eine ca. hundertzehn Jahre alte Postkarte aus dem Verlag von Ottmar Zieher. Diesem Münchner Verleger und seinen Produkten wurde vom Stadtarchiv bereits eine vierteilige Serie gewidmet, beginnend hier.
In diesem Artikel will ich einen Fall von fototechnischer Trickserei dokumentieren, mit der vom Verlag Ottmar Zieher schon vor über hundert Jahren ganz ohne KI alternative Fakten geschaffen wurden. Gemeinsam mit mir hat sich für diese kleine Serie, nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal, Werner Schröter investigativ betätigt, der Eisenbahnhistoriker des Tiroler Bahnarchivs und Mitbegründer der Tiroler MuseumsBahnen. Ohne sein scharfes Auge wäre das Rätsel vielleicht niemals gelöst worden.
Begeben wir uns also nun auf den Südtiroler Platz kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts. Der westseitige Vorplatz des Hauptbahnhofs war vom Aufkommen der ersten Foto-Postkarten Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die 1960er-Jahre ein beliebtes Postkartenmotiv. Auch in meiner Sammlung gibt es zahlreiche Bilder davon ab den 1900er-Jahren.
Dazu muss man wissen, dass die 1891 eröffnete, anfangs aus zwei Linien bestehende Dampftramway diesen bis 1923 als „Südbahnhof“ bezeichneten Bahnhof nicht anfuhr. Sie berührte keinen der beiden Innsbrucker Fernbahnhöfe. Die Linie Bergisel – Maria-Theresien-Straße der Dampftram, Ergänzungslinie genannt, verlief von der Maria-Theresien-Straße über die Leopoldstraße zum Bahnhof Bergisel, und ihre beiden Hauptlinien verliefen ebenfalls von der Maria-Theresien-Straße ausgehend nördlich der Altstadt in den Saggen und nach Mühlau, die Haller Lokalbahn von dort weiter nach Osten.
Von Anfang an hätte die Tramwaygesellschaft LBIHiT (Localbahn Innsbruck–Hall in Tirol, Vorgänger der IVB) auch den Südbahnhof anbinden wollen, das sollte aber noch dauern: erst mit Eröffnung der elektrischen Stadtbahn 1905 nahm eine nummernlose elektrische Linie dorthin den Betrieb auf. Sie wurde Verbindungsbahn-Linie genannt und verband die Saggenlinie von der Museumstraße ausgehend mit dem Südbahnhof. Mit 13. Juni 1908 wurde diese Linie über die heutige Salurner Straße und Maximilianstraße bis zur Bürgerstraße verlängert, stellte bei der Triumphpforte den Anschluss zur Dampftram-Ergänzungslinie her und an ihrer Endstation Bürgerstraße einen weiteren Anschluss zur Hauptlinie der Stadtbahn. Werfen wir nun einen Blick auf den Ursprung der heutigen quaestiō quaestiōnis, ein Postkartenmotiv von Ottmar Zieher nach fotografischer Vorlage, in der folgenden Version laut rückseitiger Aufschrift ein „Künstlerfotochrom“. Sie zeigt den Südtiroler Platz gegen Norden. Gleis und Haltestelle der Tram befanden sich damals im Süden und Westen des Bahnhofsplatzes, in diesem Bild ist das hinten links, dort, wo ein Triebwagen zu sehen ist.
Moment mal, was ist da denn hinten rechts? Sehen Sie das? Handelt es sich etwa um eine zweite Straßenbahn? Dort lagen doch niemals Gleise? Sie ahnen schon, worauf das hinausläuft. Die vermeintliche Tram hinten rechts stach mir ins Auge, weil sie dort nicht sein dürfte.
Die geringe Detailtiefe der Farblithographie, die mir zu diesem Zeitpunkt obendrein nur als qualitativ schlechtes digitales Vorschaubild zur Verfügung stand, ließ noch nicht den sicheren Schluss zu, dass hier wirklich ein Straßenbahntriebwagen abgebildet war. Es hätte ja auch eine Kutsche oder derlei sein können. Hier sprang Werner Schröter mit dem oben abgebildeten Exemplar aus dem TBA-Archiv ein, das aber auf Grund der klobigen Kolorierung auch keine neuen Erkenntnisse brachte.
Ich machte mich auf die Suche nach einer detailreicheren Version des Bildes. Bald wurde ich online fündig und kaufte die deklarierte Echtfotokarte. Sie war leider keine Fotografie, sondern stellte sich als monochromer Kupfertiefdruck heraus, aber immerhin als ausreichend detaillierter. Kupfertiefdruck war im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Stand der Technik zur Massenreproduktion von Fotografien und wies schon eine sehr hohe Bildqualität auf. Damit wurde klar, dass hier tatsächlich eine zweite Straßenbahn abgebildet war, wenn auch an unmöglicher Stelle.
Gemeinsam mit Werner machte ich mich nun daran, die rätselhafte Phantomstraßenbahn – zur Erinnerung, es ist die rechts hinten – genauer zu erforschen. War Werner zunächst noch der Auffassung gewesen, diese Tram sei nur gezeichnet, so wurde das nach Sichtung des monochromen Kupfertiefdrucks auch für ihn sehr unwahrscheinlich. Auch wenn Fotoretusche damals bei Postkarten sehr verbreitet war – es gibt etliche auf diese Weise „geschönte“ Postkarten allein von der Maria-Theresien-Straße – ist solch analoge Trickserei bei genauem Hinsehen doch recht leicht erkennbar, sofern das Bild ausreichende Detailliertheit aufweist.
Im nächsten Teil der Serie sehen wir uns dazu ein plakatives Beispiel an und gehen der Sache weiter auf den Grund.
Manni Schneiderbauer
Das ist wieder eine Forschungsaufgabe ganz nach meinem Geschmack. Ich nehme an, dass die folgenden zwei Beiträge zum Thema die Sache zum Schluß aufklären. Gab es da ein Originalfoto mit einem offenen Fenster hinter dem „Bügel“, wo die Tramway grade leicht links abbiegt oder rechts abgebogen hat? Das Fenster paßt nämlich überhaupt nicht, es hilft nur, die sonst hoffnungslose Aufgabe, den filigranen Stromabnehmer hineinzuschwindeln zu bewältigen.
Man hat sich auf jeden Fall Mühe gemacht, auch wenn ein scharfes Papiermesser die Sache ermöglicht. Was wieder die Frage aufwirft Wozu? Dass der werte Innsbruck Besuchende die trügerische Hoffnung hat, direkt vor dem Bahnhof in eine Tram einsteigen zu können? Sieht der eher auf die Nordkette konzentrierte Postkartenkäufer das Kuckucksei überhaupt? Oder hat es einmal geheißen, dass da ein Gleis geplant sei (vorauseilende Authentizität)?
Ja, Fragen über Fragen, die wir uns auch gestellt haben. Da ich den kommenden Teilen der Serie nicht vorgreifen will, heute nur so viel: die Farbversion ist vor allem eine Pinselei, mehr ein Gemälde als eine Abbildung der Wirklichkeit, während der monochrome Druck durchaus real Fotografiertes wiedergibt. Genaues Hinsehen könnte für Menschen mit entsprechender Kombinationsgabe auch bereits die Lösung offenbaren, die ich selber allerdings nicht erkannt hätte. Für einen Beweis reicht es allerdings noch nicht.
Dieser Artikelteil wird wahrscheinlich noch ein Update bekommen, so dass zum Zweck eigener Untersuchungen besser in die Bilder hineingezoomt werden kann, das funktioniert(e) zum Veröffentlichungszeitpunkt noch nicht ganz korrekt.
… und danke für den herrlichen Begriff „vorauseilende Authentizität“, den ich hiermit in meinem zerebralen Synapsensalat fest abzuspeichern versuche!