Der Bulle von Hötting
Viele Gemeinden hielten in der Vergangenheit einen Gemeindestier (teilweise auch mehrere), der allen Bauern der Gemeinde als Zuchtstier zur Verfügung stand. Da die künstliche Besamung von Kühen mittlerweile weit verbreitet ist, gibt es in Tirol nur mehr wenige Gemeinde, in denen immer noch ein gemeinsamer Zuchtstier gehalten wird.
Bei Recherche in den Akten der Gemeinde Hötting ist mir neulich ein kleiner Zettel in die Hand gefallen, der ein kleines Schlaglicht auf diese Praxis wirft. In dem Schreiben bittet Ursula Stolz, sie von der Haltung der beiden Höttinger Gemeindestiere zu entbinden, die ihr verstorbener Ehemann Balthasar vor zwei Jahren übernommen hat. Es war nämlich üblich, dass ein Bauer den oder die Tiere versorgte und dafür eine Gebühr kassierte. Da die Haltung von Stieren nicht nur ein Vergnügen war und es immer wieder zu schrecklichen Unfällen mit Stieren kam (eines von vielen Beispielen), war diese Aufgabe allerdings ein zweischneidiges Schwert.
In der Regel wurde ein Stier nur wenige Jahre in einer Gemeinde gehalten, um die genetische Vielfalt nicht zu gefährden. So musste alle paar Jahre ein neuer Stier ausgewählt werden – in der Fachsprache die Körung (ein Wort, das mir bis dahin nicht geläufig war – wieder was gelernt).

Die Gemeinde Hötting beauftragte 1901 dann interessanterweise eine andere Witwe (Portner) mit der Haltung der beiden Stiere. Wenig später wurde sogar überlegt, noch einen dritten Stier anzuschaffen, dann aber beschlossen , dass „2 Stiere in der Gemeinde genügend sind und kein 3ter mehr angestallt wird“. Für die Haltung der Tiere erhielt die Bauerin 1901 pro Jahr 120 Kronen (laut hist. Währungsrechner der ÖNB etwa 1.100 Euro). Teilweise überließ die Gemeinde dem Bauer oder der Bäuerin, die den Gemeindestier hielt auch eine Wiese als Gegenleistung. Zudem konnte er oder sie ein festgesetztes sogenanntes Sprunggeld für die Dienste des Bullen kassieren.
Gerne freue ich mich über weitere Hinweise zu dieser für mich fremden Praxis.
(Gemeindearchiv Hötting 1901; Gemeinderatsprotokolle Hötting 1898-1910, fol. 59 und 61)