Das Atlantis der Berge (I.)
„Späterhin aber entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen, und da versank während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht das ganze streitbare Geschlecht bei euch scharenweise unter die Erde; und ebenso verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere unterging.“
Platon, Timaios
Ganz so dramatisch hat es sich nicht abgespielt, aber dennoch muss es für die Bewohner dieses versunkenen Dorfes schwer gewesen sein, ihre alte Heimat zu verlassen und zuzusehen, wie sie langsam dem See anheimfiel. Wo heute ein Kirchturm aus dem Reschensee ragt, lag einst das kleine Dorf Graun. Zusammen mit einem großen Teil von Reschen versank es 1949/50 in dem Stausee, der sich durch einen neuen Damm aus dem Reschen- und dem Graunsee gebildet hatte.
Während der 30er Jahre hatte die Firma Montecatini den Plan entwickelt, diesen Damm zu errichten, um Strom zu gewinnen und Italien so weniger abhängig von Kohleimporten zu machen. Proteste der Bevölkerung waren dem faschistischem Regime gleichgültig. Durch den Krieg wurde das Projekt unterbrochen, aber nach 1945 konnte die Firma es dank eines Schweizer Kredites wiederaufnehmen. Neuerliche Proteste den Bewohner der Dörfer verklangen erneut ungehört und im Zuge des Jahres 1949 begann der Wasserspiegel langsam zu steigen.
„Wien ein strahlendes, tiefblaues Auge füllt der Stausee das Jochbecken aus. Jahrzehntelang waren der Gauner und der Reschener See der Stolz der Bauen und Wirte, die an ihren Ufern wohnten, und brachten einen gewissen Wohlstand in das sonst karge Dasein der Obervinschgauer. Nun sind sie zu ihrem Verhängnis geworden. Die Seen brachten den beiden blühenden Gemeinden den Tod. Wo einmal die Kühe auf saftigen Wiesen weideten, dort dröhnen jetzt die Bagger, lärmen die Bohrmaschinen, arbeiten Hunderte von Arbeitern nach den Anweisungen von Technikern und Ingenieuren, und steigt kaum merklich und deshalb umso gespenstischer die Flut, in der Bäume und Häuser, Feldkreuze und Türme verschwinden.“
Tiroler Nachrichten, 14. Januar 1950
(Signatur KR-NE-6449)
Arge Geschichte und ikonisches Fotomotiv, bekannt geworden vor ein paar Jahren durch die Netflix-Miniserie „Curon“.
Aufgrund der versteckten Lage abseits jeder Verkehrsachse immer noch ein Geheimtipp: mit der Brennerbahn zuerst nach Meran, dort umsteigen in die vorbildlich modernisierte Vinschgaubahn, die derzeit durch den schon vor einigen Jahren begonnenen Bau einer Fahrleitung elektrifiziert wird (ja, Fahrleitungen funktionieren auch in einer schönen Landschaft, man braucht keine Akkuzuglösung mit geringerer Energieeffizienz, auch wenn gewisse Wasserstoffköpfe in einem elektrotechnisch provinziellen Nordtiroler Seitental immer noch anderer Meinung sind) und die letzten paar Kilometer von der Endstation Mals mit ihrem sehenswerten Gleisstern weiter mit dem Bus 273 bis Graun – zumindest bis dereinst vielleicht doch noch die längst überfällige Reschenbahn gebaut wird. – Oder etwas unspektakulärer und mit längerer Busfahrt von der anderen Seite her mit dem REX nach Landeck, von dort weiter nach Graun mit der selben Buslinie 273. Es ist die Mühe wert, zumindest im Sommer. Im Winter grauslich kalt und schattig.