Ausflug ins Ungewisse
Deutsche Reichsautobahn, irgendwo zwischen Rosenheim und Salzburg. Wir schreiben die 1970er Jahre, als hier noch noch so etwas wie freie Fahrt für freie Bürger galt. Eine 5-köpfige Tiroler Familie, im scheinbar bürgerlich-langweiligen Renault 12 TL unterwegs, ist auf dem Weg in die Sommerferien in Niederösterreich. Aus einer Laune, die dem Autor dieser Zeilen, der damals persönlich und nicht angeschnallt zwischen seinen beiden Geschwistern auf dem Rücksitz saß, bis heute völlig unerklärlich bleibt, drückt plötzlich der Familienvater das Gaspedal auf einer Kuppe voll durch. Mit der Dynamik des Terrains, der leichten Überladung des schwer in den hinteren Federn sitzenden Franzosen und der Gunst der Stunde versucht er, den Allzeit-Geschwindigkeitsrekord des Boliden herauszufordern. Ja, man hat im Inntal schon 136 auf der Nadel gesehen. Der Tachometer „geht bis 180“, was bei Buben der Zeit immer das erste Kriterium für die Einschätzung eines schnell abgecheckten neuen Automobils war. Der mit 12 bis 14 Litern Verbrauch eher genügsame Vierzylinder mit sagenhaften 54 PS spürt die Gunst der Stunde. Bei 143 km/h wirft die beifahrende Mutter dem Piloten einen besorgten Blick zu. Die Rampe würde noch weitere drei- bis vierhundert Meter Beschleunigung zulassen. Man könnte, wenn Reifen, Fahrwerk und Motorengeräusch dies zuließen, die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören in der Passagierkabine des Gallischen Höllenhundes aus Elsässer Stahl und erstem Rost. Der Vater ist entfesselt, der kühne Blick bleibt auf den Horizont gerichtet. Die Rückbank kreischt, die Ebene ist erreicht. Noch viele Wochen ist man sich nicht sicher, ob 147 oder 148 Kilometer in der Stunde erreicht werden konnten. Die Mutter wird pflichtbewußt bei jeder späteren Erzählung des Erlebten kreidebleich werden.
Auf diesem Bild sehen Sie Hugo Schindler, der 1936 einfach nicht anders konnte, als sich mit seinem neuen Auto die deutsche Nazi-Autobahn anzuschauen. Und er hatte recht. Von freien Bürgern war zu dieser Zeit längst keine Rede mehr, aber Hugo Schindler liebte seine Autos und wenn die Welt schon drohte unterzugehen, dann wenigstens im sechsten Gang. Nur zwei Jahre später beschlagnahmte die Gestapo dieses und alle anderen Autos seiner Firma. Ein paar Monate später waren auch die Wohnungen enteignet und die Familienmitglieder, die nicht nach England fliehen konnten, wurden in der Shoa ermordet.
Über die Innsbrucker Familie Schindler erscheint kommendes Jahr ein Buch aus der Feder von Hugos Enkelin Meriel Schindler. Darin wird sie, mit einzigartigen Bildern und Dokumenten illustriert, die ungewöhnliche Geschichte des Clans, der Wiltener Brennerei und des sagenumwobenen Cafés erzählen. Große Empfehlung!
(Archiv Markus Wilhelm)