Die Zahlen der Geburtslottoziehung
Die Geburtslotto-Theorie ist recht einfach erklärt: Nach ihr hat zunächst nie jemand den geringsten Einfluss darauf gehabt, an welchem Ort er oder sie zur Welt gekommen ist. Danach hat man allerdings zeitlebens den Jackpot-Startvorteil einer Geburt in reichen demokratisch-friedvollen Weltgegenden oder den Nieten-Nachteil der Herkunft aus armen, ungerechten oder kriegerischen Regionen im Paket mit Staatsbürgerschaft, Bildungschancen, Reisefreiheit, Gesundheitssystem etc. Wenn Ihnen das zu abstrakt klingt, diskutieren Sie es bei Gelegenheit mit Ihrem 20er Verkäufer.
Innerhalb Innsbrucks gibt es eine abgeschwächte Form des Viertel-Bingos. Ich kenne mindestens ein halbes Dutzend Männer meiner Generation, die sich aufgrund ihrer urban-regionalen Herkunft (vorzugsweise bei Unbekannten) als „Reichenauer Ratz“ vorstellen. Wird einem saturierten Saggener oder einem Igler Ingenieur noch nicht eingefallen sein, aber auch keinem Höttinger Haudrauf, Dreiheiliger Dreikäsehoch, Pradler Partyschreck, weinseligen Wiltener, naseweisen St. Nikolauser, auch keinem halbstarken Hungerburgler oder Kranebitter Kraftlackl käme die Idee, sein Viertel zuerst einmal herunterzumachen oder mit dessen anrüchiger Aura eine Gänsehaut beim Gegenüber zu erzeugen. Die Arbeitshypothese dazu: Bevor es das Gegenüber sagt, sagt man es lieber selbst.
Das Titelbild, dessen etwas schmuddeliger Plan in hochaufgelöster Fassung hier zu sehen ist, zeigt direkt unter dem Schriftzug Reichenau die lange straßennamenlosen und doch nummerierten frühen Häuser einer Siedlung in dieser Gegend. Benannt nach den Bewohner*innen der Häuser Nummern 14 und 15 namens Bock wohnten hier auch die Randls, die Peers, Fletzs, Hüttls, Berghammers und ein Cousin meines Großvaters namens Paul Hofinger (1901 St. Nikolaus – 1975 Innsbruck), den wir ziemlich selten besuchten. Als Kinder ohne Berührungsängste und noch ganz ohne soziologische Forscherbrille unterwegs aber mit gutem Gedächtnis für kleine Zuwendungen bekamen mein Bruder und ich von Onkel Paul dann Plastik-Dinosaurier aus den Linde-Ersatzkaffee-Packungen und einen Streifen vom scharfen grünen Wrigley-Kaugummi, bevor unser Vater den VW Käfer mit Spitznamen Rumpelkiste startete und wir, weil wir es konnten, wieder in unsere heile bürgerliche Welt entschwanden.
Interessant, dass ein Hausbesitzersohn in der Bock-Siedlung enden konnte.
Geboren wurde Paul Anton Hofinger am 18. Mai 1901 in der Innstraße 79 als Sohn des nach St. Johann zuständigen Handelsmannes und Hausbesitzers Karl Hofinger. Die Mutter war Rosa Gegner, Gasmeisters-Tochter aus Bozen.
Als Taufpate des kleinen Paul fungierte der Wiltener Handelsmann Anton Hofinger.
Im Hausbesitzerverzeichnis der Adressbücher wird Karl Hofinger von 1901 bis 1918 als Spezereihändler erwähnt.
Wahrscheinlich waren Kriegsanleihen oder die Hyperinflation nach dem 1. Weltkrieg der Grund für den sozialen Abstieg.
Der Nachruf auf Karl Hofinger in den Innsbrucker Nachrichten vom 31.12.1935 bestätigt diese Vermutung und erzählt vom Schicksal eines Kaufmannes und Heimatforschers:
„In Innsbruck verschied Herr Karl Hofinger, ehe-
maliger Kaufmann, im 79. Lebensjahre. Der Verstorbene war
aus St. Johann i. T. gebürtig und ein Vetter des ehemali-
gen Landtagsabgeordneten und Bürgermeisters Hofinger von
St. Johann. Schon in jungen Jahren kam Karl Hofinger nach
Innsbruck und widmete sich dem Kaufmannsberuf, diente
dann bei den Tiroler Kaiserjägern und führte später jahrelang
ein eigenes Gemischtwarengeschäft mit Tabakverschleiß in
St. Nikolaus. Da ihm ein schweres Schicksal in kurzen
Zwischenräumen seine Frau und seine beiden Töchter durch
den Tod entriß, verkaufte Herr Hofinger sein Geschäft samt dem
eigenen Haus, verlor aber in vorgerückten Jahren durch die
Inflation sein gesamtes Vermögen! Er trat dann in die Dienste
des Stadtmagistrates und später als Redaktionsdiener in die
Schriftleitung der „Innsbrucker Nachrichten“ ein und hat in
unserem Betrieb sich fast ein Jahrzehnt durch seine unbedingte
Verläßlichkeit sehr bewährt. Karl Hofinger war auch in heimat-
lichen Dingen bewandert und zählte zu den Mitarbeitern der
„Tiroler Heimatblätter“, in denen wiederholt Aufsätze aus
seiner Feder, eigene Jugenderinnerungen und Schilderungen
alter Volksbräuche erschienen sind.“
Fräulein Klara Hofinger war von Beruf Buchhalterin und eine Schwester von Paul Hofinger. Sie starb bereits mit 20 Jahren am 10. Juli 1919 an einer sehr leidvollen Miliartuberkulose. Der Anteil der Fälle mit Miliartuberkulose unter den Tuberkulose-Kranken liegt nur zwischen 1-2%.
Hier hat das Schicksal wohl einen sehr tragischen Strich durch die Geburtslotterie gemacht…..
Die andere Schwester Rosa Hofinger starb am 10. Mai 1917 tragischerweise ebenfalls schon mit 20 Jahren an der Krankheit Phtisis pulmonum – Lungenschwindsucht / Lungentuberkulose.
Die Mutter Rosa Hofinger geb. Gegner starb ebenfalls an Phtisis pulmonum. Sie wurde 56 Jahre alt. und verschied am 7. März 1919.
So starben innerhalb von etwas über 2 Jahren drei Mitglieder dieser vom Schicksal so sehr gebeutelten Familie.
Erst mit der Entwicklung des segensreichen Antibiotikums Streptomycin konnte ab 1943 den Tuberkulosekranken wirksam geholfen werden.