Er hat einen Grant!
Im Rahmen unserer Arbeit an „Innsbruck erinnert“ stoßen wir immer wieder auf interessante, kuriose oder auch amüsante Zeitungsberichte. In die letzte Kategorie fällt – zumindest mit einer Distanz von gut 100 Jahren 😉 – auch der Artikel „Untugenden des Innsbrucker Straßenpublikums“, den die konservativen Neuen Tiroler Stimmen am 23. Jänner 1913 brachten. In diesem Beitrag, dessen Autor schlicht mit „ein Grantiger“ zeichnete, erscheint jeder Gang durch die Innenstadt als ein einziger Spießrutenlauf. Und unter den Lauben muss es demnach zugegangen sein, wie auf einem orientalischen Bazar. Aber lesen Sie selbst…
Ein Gang vom „Goldenen Dachl“ zur Hauptpost.
Ich soll noch vor Postschluß eine Postsendung bei der Hauptpost machen und habe Eile. Ich trete in die Lauben, da stehen schon Kauflustige, die teils an den ohnehin meist zu weit vorgeschobenen Warentischen, teils vor den Läden handeln und schachern. Manche Leute scheinen überhaupt lieber auf der Straße ihre Kaufgeschäfte abzuwickeln als in den Läden. Kaum habe ich mich da durchgewunden, kommen Kindermädchen, jedes mit einem Kinderwagen, nebeneinander plaudernd. Da heißt es ausstellen, so der so – sonst wird man angerannt. Nun weiter. Vor mir schreitet eine Dame mit offnem Regenschirme, es hatte nämlich vor einer halben Stunde geregnet! Sie bringt mit ihrem Schirme Mäntel und Kehrwische, Taschen und Hosen, Zwiebelkränze und Patschen und was alles da hängt, zum Baumeln, streift einem Herrn den Hut vom Kopfe, stoßt mit der Spitze an eine Gaslaterne und verhängt sich mit einem Stangel in eine Rodel, aber der Schirm bleibt offen. Kaum einmal geht man bei Regenwetter durch die Lauben, ohne eine solche Dame zu treffen; Herrn habe ich nur einmal einen mit offenem Schirme gesehen und das war der Professor. (Den Namen hat die Redaktion gestrichen. D. R.) Ist es denn gar so hart, im Gehen die zwei Griffe des Schließens und Oeffnens eines Schirmes zu machen? – Als ich weiter will, rollen da und dort Hausknechte mit mehr Uebereifer als Rücksicht für die Passanten Fässer und Warenkisten aus den Häusern, so daß ich nur mit kühnem Sprunge meine Beine retten kann. Endlich komme ich zur ehemaligen Hauptwache und suche – nachdem ich mich durch einen Trupp Dienstmänner hindurch gearbeitet, schnell die Straße zum Stockereck zu überschreiten, da die Elektrische schon nahe kommt. Allein an der Ecke pralle ich auf eine Mauer von Eckenstehern und Spaziergängern. Doch da hilft nichts, die Tram ist mir auf den Fersen, mit meinem Leibe öffne ich eine Breite und schreite fürbaß. Zwar trafen mich bei dieser Tat böse Blicke, doch ging es glücklich weiter! „Hör‘ mal, was es hier für breite Bürgersteige gibt“ hörte ich einst in der Maria Theresienstraße eine fremde Dame in norddeutschem Idiom zu ihrem Begleiter sagen. Jawohl, sehr breit ist der Bürgersteig und doch oft zu schmal. Da kommt gerade eine breite Front von Studierenden anmarschiert, von Ausweichen vorderhand keine Spur. Als ich aber aufgerichtet stehen bleibe, öffnet sich endlich ein Durchlaß. So die Musensöhne. Aber die Musentöchter! Siehe da kommt eine Phalanx von vier solchen hübschen Geschöpfen; fest ineinander eingehängt, Bücher und Hefte an den Busen gedrückt, die eine ein Wetterdach, die zweite einen Napoleon, die dritte einen Touristenstulp und die vierte eine Art Fozelkappe mit Federschmuck am Kopfe, schreiten sie plaudernd und kichernd einher. Auszuweichen fällt ihnen nicht ein; zwar schieben sie sich ein bisschen rechts und links, aber die Phalanx bleibt geschlossen. Da hilft nur ein Umgehungs-Manöver. Als ich weiter eile, sehe ich vor mir ein dickes, dickes Ehepaar hinaufwatscheln. Die machen immer ein paar Schritte rechts und links, bald zusammen, bald auseinander, dann eine Schritt vorwärts. Wie da vorüberkommen? Ich versuche es rechts, aber da komme ich schlecht an, – da ist schon der Mann, der mir vor die Füße tritt und über das Trottoir kann ich nicht hinaus, da hier die Fiaker stehen. Jetzt öffnet sich ein Raum zwischen den Beiden, also hier durch. Aber schon stoßen sie wieder zusammen und bald wäre ich zwischen den Kolossen gequetscht worden. Endlich erhasche ich einen Moment, wo die Mauerseite frei und der Durchgang offen war. Es ist unglaublich, wie geschickt manche Leute sind, die Nachfolgenden im Vorausgehen zu behindern. Nun weiter! Da kommt ein Kindermädchen mit einem Kinderwagen entgegen. Links hängt sich ein größeres Kind an den Wagen, rechts schreitet die Frau Mama majestätisch mit einem Mädchen an der Hand. Das ist wieder eine Front von vier, die das Trottoir ausfüllt und im großen Zirkel umgangen werden muß.
Schließlich kreuzt meine Schritte eine „Diagonale“. Das ist eine ganz unbequeme Spezies von Spaziergängerinnen, Solche gehen von der Mauerseite in einer langen Diagonale auf die Straßenseite, von dort wieder so auf eine Auslage los, um in den Spiegelscheiben nochmals ihren Hut zu bewundern, von dort wieder diagonal auf die Straßenseite und so fort, wobei sie allen Andern vor die Füße laufen.
Am Beginn der Landhausstraße gibt es noch ein Abenteuer. Einige promenierende Herrn vor mir machen plötzlich „Kehrt“ und wir karambolieren ganz gehörig. Auf dem weiteren Marsche zur Hauptpost gab es kein weiteres Hindernis.
Bei aller Überzeichnung dürften die Erlebnisse, die den uns unbekannten „Grantler“ dazu bewogen haben, zur Feder zu greifen, nicht ganz aus der Luft gegriffen gewesen sein. Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass es bereits vor dem Ersten Weltkrieg verschiedentlich Versuche gab, den Fußgängerverkehr in unserer Stadt zu regeln. Im Jahr 1927 wurde sogar eine eigene Fahr- und Gehordnung für die Landeshauptstadt Innsbruck erlassen. Und, wie unser Titelbild zeigt, waren um 1930 in der Maria-Theresienstraße sogar Schilder aufgestellt, die die Fußgängerströme regeln sollten…
(Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Slg. Gottfried Newesely)
Leute, die sich grün und blau ärgern (welch zufälliges Politikum), sind immer der Quell unfreiwilliger Komik. Was für Feindbilder brechen sich hier aus der geplagten Seele Bahn!
Was mich aber wirklich erstaunt, ist weniger das bislang unbekannte Schild, sondern die brave Respektierung des selben. Semesterferien?
Dieses Schild war mir bisher auch nicht bekannt, aber ich weiß noch genau: Wenn ich mit meiner Mutter auf dem breiten Gehsteig an der Ostseite der Maria Theresien Straße ging, wurde ich immer ermahnt, rechts und geradeaus zu gehen – wahrscheinlich hatte dies meine Mutter noch aus der Zeit, als diese Tafel aufgestellt war, in sich. Wollte man nur einen Schaufensterbummel machen, dann hieß es: Wir gehen von oben herunter!
Das ist mir bis heute geblieben!!