Im Ausländerlager
In einer Kurve der Karwendelbahn lag bis in die 1960er Jahre eine Barackensiedlung, zu der es im Stadtarchiv so gut wie keine Fotos und Geschichten aus dem Alltagsleben gibt. Im amtlichen Verkehr wurde es das Lager Höttinger Au oder kurz das Ausländerlager genannt. Hier waren Flüchtlinge aus deutschsprachigen Orten und Gebieten Mittel- und Osteuropas untergebracht, die nach 1945 von dort vertrieben worden waren.
Direkt vor der optimistisch neu errichteten Heilig-Jahr-Siedlung ist auf diesem Bild aus dem Jahr 1952 die ausgedehnte Baracken-Landschaft zu sehen, in der einige hundert BewohnerInnen mit ihren Familien und Kindern oft über Jahre ohne jede Perspektive lebten. Die Staaten des (erst 1955 unterzeichneten) Warschauer Paktes würden sie nicht mehr zurück nehmen, das war allen klar. Österreich wollte sie nicht aufnehmen, weil es kurz nach dem Krieg und kurz vor dem Wirtschaftswunder unvorstellbar war, dass es hier jemals genug Brot und Arbeit für alle geben könnte. Amerika, wo alle hin wollten, nahm vor-zu einzelne junge Familien auf. Aber viele blieben und ihre Nachkommen sind mittlerweile längst integraler Bestandteil der bunten Innsbrucker Bevölkerungsstruktur geworden.
So lange es die Siedlung gab, wollte niemand so recht etwas damit zu tun haben. In einer Statistik des Innsbrucker Amtsblatts von 1952 werden noch 287 Wohnbaracken im Stadtgebiet für das Jahr 1951 genannt. Wie viele Menschen darin wohnten, wurde wohlweislich verschwiegen. Nimmt man das Bild oben mit seinen, je nach Zählung, 14 oder 15 bewohnbaren Baracken, existierten also etwa 20 solche Wohnlager in Innsbruck. Siehe dazu auch diesen Beitrag von Lukas Morscher.
In den Lagern gab es kleine Geschäfte und Gewebeunternehmen, und viele der jüngeren und gesünderen BewohnerInnen konnten bald in der Stadt arbeiten.
Der Text auf dem Schild über dem Eingang wurde später, wie auf dem kleinen Bilde oben rechts zu sehen, mit einer leider nicht restlos entzifferbaren französischen Bezeichnung (Camp de Transit d’Étrangers?) ersetzt; die geflüchteten Familien blieben noch jahrelang dort.
Im Februar 2021 erreichte das Stadtarchiv ein Schreiben aus den USA. Eine Familienforscherin erkundigte sich nach einem Lager, in dem ihre Familie etwa ab 1948 untergebracht gewesen war und auch zwei ihrer Geschwister geboren worden waren. Ihr Bruder sei, keine zwei Jahre alt, eines Tages durch den Lagerzaun entwischt und daraufhin in einem Fluss ertrunken. Sie wolle, so bald man wieder Reisen könne, zum genauen Ort des Lagers gehen und an der Stelle des Unglücks eine Kerze für ihren Bruder anzünden. Nach Recherchen im Standesamt fanden wir dazu diese traurige Zeitungsnotiz: Der Bub war nicht in einem Fluss, sondern im direkt hinter dem Lager verlaufenden Gießenbach ertrunken.
Danke für diesen enorm interessanten Beitrag und die Bilder. Wieder eine stadtgeschichtlich bedeutsame Einrichtung, von der ich zuvor noch nie gehört hatte.