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8 Monate Anno 1902 (63)

8 Monate anno 1902 (63)

Seit sechs Tagen weilt Marie nun schon in Paris. Wir erinnern uns, sie residieren im „Hôtel du Louvre“ unmittelbar neben dem gleichnamigen Königsschloss. Nach Versailles am Vortag ist nun endlich das Louvre selbst dran. Der Eintrag zeigt, auch hier den Einfluss von Maries Bildung auf ihr Erleben: fast nicht zu fassen – „Der ganze Kunstgeschichtzauber aus Thurnfeld ist nun zur Wahrheit für mich geworden.“ Herr Pechlaner hat letzte Woche sein Erstaunen über die touristische Vermarktung von Versailles geäußert, den Eintrag zum Louvre könnte man hingegen fast gegenteilig interpretieren. Ich weiß noch, als ich vor acht Jahren in Paris war, Dezember, kalt, grau, eigentlich nicht wirklich die schönste Jahreszeit, um durch Paris zu flanieren und wohl auch nicht Hauptreisezeit – aber die Schlange vor dem Louvre war dennoch so beeindruckend, dass ich sie sogar fotografiert habe. In meiner Erinnerung nur übertroffen von jener (vermutlich ebenfalls fotografisch festgehaltenen) vor den Vatikanischen Museen Anfang der 2000er. Und nicht zu vergessen jene im Supermarkt meines Vertrauens, am Samstagvormittag vor dem allerersten CoVid-Lockdown. Aber das führt jetzt doch zu weit. Wie dem auch sei, wäre der Ansturm 1902 auch schon so groß gewesen, hätte Marie das nicht erwähnt? Aber ein Ort wie das Louvre war wohl damals, sowohl was die Darbietung als auch die Eintrittspreise betrifft, ein Nischenprogramm für gehobenes Bürgertum und aufwärts, während es heutzutage auch für die Massen ein Muss ist.

Der Abschluss des Eintrags zeigt auf, wie jede Zeit ihre eigenen Begrifflichkeiten, Wertungen und Stereotype hervorbringt, die en passant fallen gelassen werden und für die Zeitgenossen wohl klar verständlich waren, heute aber ohne entsprechendes Fachwissen nicht so leicht zu entschlüsseln sind. Nachmittags spazierten sie zum „Magasin du Printemps, es sah aber so jüdisch schon von außen aus, u. dann diese Waren!“ Was bedeutete es, wenn ein Geschäft „jüdisch“ aussieht? Es scheint also zum einen die Art der Waren zu sein, aber nicht ausschließlich. Vielleicht deren Präsentation in den Schaufenstern? Oder war für Marie die Größe des 1921 abgebrannten Warenhauses Sinnbild für das (jüdische) Großkapital, im Gegensatz zu den kleinen Tiroler Handwerkern und Läden? Und damit zusammenhängend, empfand Marie den Umfang und die Ausstattung als Prunk und Protzerei erfolgreicher (jüdischer) Geschäftsleute? Die Zuschreibung ist auch insofern verwunderlich, da ich – zumindest mit einer oberflächlichen Internetsuche – keine Hinweise darauf finden konnte, dass Architekten oder Betreiber einen jüdischen Hintergrund hatten. Es geht also hier nicht um das Magasin du Printemps an sich, sondern um eine Projektion dessen, was Marie in ihrer bürgerlichen, katholischen, deutsch-patriotischen Vorstellungswelt als „typisch jüdisch“ empfand.

15. October [1902], Mitwoch. Heute vormittags giengen wir zum 1. Mal in das Louvre u. zwar zu den alten Meistern. Der herrliche Raffael tritt uns entgegen mit vielen, vielen Werken, dann auch Tizian mit der besonders schönen „Dornenkrönung“ u. dem „l’homme au gant“. Wir traten in den Saal der ältesten Meister, wo der Fra Giovanni Angelico da Fiesole mit seiner „Krönung Maria“ auffällt mit seinen himmlischen Farben u. Figuren. Der ganze Kunstgeschichtzauber aus Thurnfeld ist nun zur Wahrheit für mich geworden. All‘ die weltberühmten Meister stellen sich vor, ich beschreibe hier die Bilder nicht, ein Lesen der Beschreibung derselben im Bädeker, soll mir dann den ganzen Eindruck wieder hervorrufen, nur ein paar seien genannt. Wahrhaft schön ist Murillo hier zu sehen in seinem Meisterstück: Die Unbefleckte Empfängnis“, dann mit der „Engelsküche“, ein ganz anheimelndes Bild u. doch voll religiösen Ernstes. Herrera’s „Anbetung der Hirten“ ist auch prachtvoll. Velasquez u. Zurburan sind auch vertreten. Der große deutsche, Albrecht Dürer, ist mit ein in Wasserfarben ausgeführten Greiseskopf zu gegen u. einem Knaben mit angebundem Bart; Holbein mit dem Portrait des Hofastronomen Nicolaus Kratzer u. Erasmus v. Rotterdam, sowie des charakteristischen Erzbischof Warham von Canterbury. Nun kommen die Vlämen, Jordean, Rubens, Van Dyck etc, etc, besonders Rubens sehr reich vertreten. In kleineren Gemächern kommen wieder hauptsächlich holländische u. vlämische Meister; Hans Memling Roger von der Weyden, Cuinten Matsys, Franz Hals, Bauernbreughel, Van Goyen, Van Ostade, Ruisdael, Wouvermann, Gerard Dou, dann der berühmte Rembrandt mit dem schönen „Die Jünger von Emaus“, Christus mit den gläsernen Augen, die den Tod geschaut haben“, dann 2 Philosophen in tiefem Nachdenken, u. der „Abschied des Engels von der Familie des Tobias“. Watteau ist zahlreich mit kleinen Sachen vertreten, von denen man „das Rauschen der Seidengewande hört“, etc, etc, etc. Man könnte hier Tagelang bleiben, aber ach! – Nachmittags giengen wir ins Magasin du Printemps, es sah aber so jüdisch schon von außen aus, u. dann diese Waren! – so dass wir gar nicht hineingiengen, sondern unsere Wanderung zu dem noch ziemlich entlegenen Parc Monceau fortsetzten, der mir jedoch sehr gut gefiel. Wir waren aber zuhause dann ganz ermüdet.

Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)

Bild: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, 06.74.03-1-21-3 (Place du Carusel und Louvre, 1906-1914).

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
  1. Die neuesten Kommentare fehlen etliche sowohl in der Liste als auch in der ZUsammenfassung…bitte endlich einmal ein ernstes Wort mit den zuständigen IT Leuten sprechen. Danke.

  2. Man fühlt beim Lesen förmlich, wie fasziniert Marie von den alten Meistern im Louvre ist. Wollte sie anfangs „nur ein paar“ erwähnen, wurde es dann doch beinahe eine vollständige Aufzählung.
    Interessanterweise vermisst man darin jedoch die Mona Lisa. Deren heutige Berühmtheit begann wohl erst mit dem Diebstahl 1911 bis 1913 aus dem Louvre, scheint aber damals wenig Beachtung gefunden zu haben. Die kundige Marie hätte uns, oder besser gesagt ihrem Tagebuch bestimmt davon erzählt.

    Warum Marie das Magasin du Printemps – hier übrigens ein Bild aus der Zeit http://vergue.com/post/267/Grands-magasins-du-Printemps – bereits von außen jüdisch empfand, kann ich genauso wenig nachempfinden wie Herr  Bürgschwentner. Man fragt sich warum sie es nicht als stockfranzösisch sah. Sie könnte vielleicht freizügige Reklame bemerkt und diese als jüdisch bezeichnet haben. Deren Kultur war bereits damals als weniger ‚verklemmt‘ bekannt als jene der Marie in dieser Zeit, augenscheinlich selbst für französischer Maßstäbe. Als ‚Waren‘ in der Auslage kann ich mehr nämlich sehr wohl Dessous und Corsagen vorstellen, die unserer behüteten Marie die Schamesröte ins Gesicht trieb.

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