8 Monate anno 1902 (60)
Ganz unverhofft kommt Marie heute in Berührung mit der großen Weltpolitik. Am 31. Mai 1902 endete der seit 1899 andauernde, brutal geführte Zweite Burenkrieg, der ein großes mediales Echo gefunden hatte. Der Friedensschluss endete bekanntermaßen mit einem Sieg der Briten, räumte den Buren aber weitgehende Freiheiten ein (Afrikaans als Amtssprache, Selbstverwaltung). Drei der führenden Burengeneräle – Louis Botha (1862-1919, ab 1910 erster Premierminister der Südafrikanischen Union), Christiaan Rudolf de Wet (1854-1922) und Jacobus Herculaas „Koos“ de la Rey (1847-1914) – bereisten nach dem Friedensschluss Europa und die USA, um für die Sache der Buren zu werben und Geld für den Wiederaufbau zu sammeln. Die Tour führte sie unter anderem in die Niederlande, nach Berlin und auch nach Paris – wo Marie einen Blick auf die oben abgebildeten „freundlich grüßenden Herren […] mit großen Vollbärten“ erhaschen konnte. Ob sie wohl als Erinnerung eine Postkarte erwarb?
13. Oct. 1902, Montag. Wir wollten nach Versailles fahren, da das Wetter so schön ist, erfuhren jedoch, dass das Schloss heute geschlossen ist, desgleichen das Louvre. Nun machten wir eine Entdeckungsreise in einen neuen Stadttheil. Zuerst besuchten wir die Centralmarkthallen „les Halles Centrales“. Selbe bestehen aus 12 Riesenpavillons in Eisenkonstruktion u. Glas; 6 zu jeder Seite, dazwischen fahren die Wägen durch. Da es noch früh war, ungefähr 9h, so war noch ein sehr lebhafter Verkehr; in den ersten Pavillons war noch Engros-Handel; breitschultrige, große junge Männer mit Leinenkitteln an u. riesigen wohl 1m Durchmesser habenden weißen Filzhüten auf, trugen die Waren auf dem Kopf zu den Wägen u. zurück. Dann kamen die Fleischerbuden, dann ein od. 2 Pavillons nur für Fische; dabei Verkäuferinnen, alte häßliche Frauenzimmer, die mich lebhaft an den Zug zu Louis XVI. nach Versailles erinnerten. Auf den Tischen krabbelten die kleinen Krebse lustig untereinander, während die großen Hummer sich nur ganz langsam ab u. zu einmal bewegten. – Es war wirklich interessant! – Vis-à-vis der „Hallen“ liegt die Kirche St. Eustache in ganz eigenartiger Stillosigkeit sozusagen, von außen nämlich; Ausgeartete Gothik und Frührenaissance, dann wieder jonische u. dorische Säulen vermengen sich zu einem sehr eigenartigem Eindruck, betritt man aber das Innere, so ist man plötzlich in einer hohen, luftigen, imposanten gothischen Säulenkirche, welche alle Erwartungen übertrifft. Die Kirche ist fünfschiffig, so edel u. schön. Mehrere Kapellen davon sind der seligsten Jungfrau geweiht u. tragen sehr schöne Statuen von ihr. Interessant u. bemerkenswert ist auch das Grabmal Colbert‘s des Ministers Ludwig‘s XIV., welches ihn selbst darstellt auf einem schwarzen Marmorsarkophag kniend. – Wir verrichteten ein kurzes Gebet u. wanderten dann weiter zur Rotunde der Bourse des Commerce, an deren Rückseite eine 30m hohe, 3m starke altersschwarze Säule emporragt, der Rest das für Katharina v. Medici erbaute Hôtel de Soissons. Nun giengen wir zur Hauptpost, welche nichts Besonderes bietet, dagegen ist das angebaute Telefonamt interessanter, welches nach Art assyrischer Denkmäler aus kleinen farbigen glasierten Ziegeln erbaut ist. Immer weiter bis zur Place des victories, wo ein sehr interessantes schönes Reiterstandbild Ludwig des XIV. sich befindet; noch ein kleines Gässchen, wir sind bei der berühmten Kirche Ntre Dame des victoires, in welche wir eintreten. Am linken Seitenaltar nahen sich eben vielen Gläubige dem Tische des Herrn. – Agnus Dei, miserere nobis! – Im Chor steht der reichgeschmückte Marienaltar mit der auch bei uns bekannten Statue U. l. Frau vom Siege. Die Wände sind wie tapeziert mit eingemauerten Votivtafeln aus weißem Marmor größtentheils. Künstlerischen Wert besitzt die Kirche wenig. Ich empfahl mich noch dem Schutze der Himmelskönigin an diesem ihrem Gnadenorte! Dann besichtigten wir noch die Börse, einen Prachtbau, eine Nachbildung des Vespasiantempels von Rom mit 64 korinthischen Säulen umgeben, wozu aber jetzt ein fast noch so großer Zubau sich gesellt, ganz gleich ausgeführt, an dem jetzt gearbeitet wird, weshalb die Gerüste die Gesammtwirkung sehr beeinträchtigen. Nun ins Hôtel speisen, dann, während l. Onkel Nicolaus ein Mittagsschläfchen machte, giengen l. Tante Anna u. ich in das Grand Magasin du Louvre, um für mich ein Kleidchen zu kaufen. Was uns gefiel war aber sehr theuer, Rock u. Jaquette aus Tuch 180 francs, etwas billigers aber sagte uns nicht zu, weswegen wir das riesige Kaufhaus verließen, ohne einen Sou ausgegeben zu haben. Wieder im Hôtel angelangt, spazierten wir die Avenue de l’Opéra entlang, wo bei der Oper droben ein Riesengedränge war. Auf mein Anfragen erfuhr ich, dass die „trois Généraux Boërs“ heute hier ankommen werden; wir wollten sie uns auch ansehen u. warteten beiläufig eine Stunde lang, umhergepufft von einer zahllosen Menge. So oft ein aparter Wagen vorbeikam, flogen die Hüte in der Luft, alles gestikulierte u. rief u. schrie untereinander. Berittene Schutzleute drangen mit den Pferden sogar auf die Trottoire dennoch kamen die Omnibusse infolge der Menge oft lang nicht weiter. An den Ecken waren arbeitslose Individuen u. verkauften: „les trois généraux boërs 5 cents. Ansichtskarten mit Botha, Dewet u. Delaray, welche die Herren u. Damen bereitwilligst kauften. – Uns wurde es aber doch zu dumm u. zu langweilig; wir giengen über den Boulevard des Capucines et de la Madeleine zur gleichnamigen Kirche, dann durch den Tuileriengarten weiter heimwärts. Da entstand Bewegung in der Rue de Rivoli, zwischen 2 Truppen berittener Gensdarmes fuhren mehrere offene Wägen mit freundlich grüßenden Herren drinnen mit großen Vollbärten u. Zilynderhüten: es waren die Burengenerale, welche wir nun auf so bequeme Weise noch zu sehen bekamen; Also wieder war Interessantes!
Text: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Cod-2072-1 (Transkription: Katharina Schilling)
Titelbild: Illustrirte Welt, Heft 15, 1903(via Anno)
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In vielen Ländern Europas, allen voran Holland und Frankreich aber auch z.B. in den deutschsprachigen Gebieten hielten die Leute in diesem Krieg zu den armen Buren. Vielleicht war es Anglophobie, auf alle Fälle erklärt es diesen freundlichen enthusiastischen Empfang dieser Burengeneräle. Marie scheint es jedoch nur wenig zu interessieren.