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Die Waggonbewohner:innen #7

Die Waggonbewohner:innen #7

Lebensgefährliches Wohnen

Die ironisch zum Toast erhobenen Gläser, die selbstbewussten Blicke, die widerständige Haltung der Waggonbewohner:innen, wie wir sie nun auch von Fotos kennen, die sind nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil ist der objektive Irrsinn, mehrere Jahre auf einem in vollem Betrieb operierenden Bahnhof zu wohnen.

So wie auf der Skizze eines bewohnten Güterwaggons, die im Februar 1923 im Wiener „Morgen“ erschienen ist, hat es vermutlich auch in einigen carrozze in Innsbruck ausgesehen. Ein paar von südlich des Brenners mit herauf gebrachte Möbel, ein Bett, eine Küchennische; Frau Elisabeth Kury geborene Aufegger befand sich mit ihrem Mann Franz Kury in ihrem provisorischen Wohnraum. Beide waren in Kärnten zuständig und zwei Jahre zuvor nach Innsbruck gekommen; sie hatten in Franzensfeste gelebt, wo sie geheiratet hatten und ihre Kinder auf die Welt gekommen waren. Dann geschah das Unglück.

Da es an diesem fünften Jänner bereits den dritten solchen Unfall auf dem Wohngelände der Waggonbewohner:innen gab, platzte dem Redakteur der Volks-Zeitung der Kragen. Sein Bericht über diesen (frei nach Tante Jolesch: „Gott möchte abhüten vor allem, was noch ein Glück ist“) glücklicherweise nur mit großem Sachschaden verlaufenen Unfall steigerte sich zu einem veritablen Wutausbruch über die Zustände am Hauptbahnhof, in dem alles winterlich erstarrt schien auch wenn es sich außerhalb des Bahnhofsareals die Oberen offenbar schon wieder alles am warmen Ofen richten konnten.

Die Familie Kury entging mit großem Glück einer Katastrophe. Die Kinder waren „aus dem Haus“, die Eltern überlebten mittelschwer verletzt die Karambolage mit einer fehlgeleiteten Lok, deren Führer zwar noch zu bremsen versuchte, aber doch mit all ihrer Tonnage in den Küchenwagen der Kurys krachte. Ein klassischer Rangierunfall, auf einem selten genutzten Gleis hatte die Rückstellung einer Weiche nicht stattgefunden.

Durch die aneinander gekettete Waggonreihe setzte sich ein Auffahrunfall natürlich bis zu den letzten Wagen fort. Dort standen die Wagen der Familie Rudolf Schiegl mit Barbara geb. Hofer aus Klausen und jener der Familie des Rudolf John und der Wilhelmine geborene Schiegl, die 1909 in Bozen geheiratet hatten. Weil alle Waggons gut „eingebremst“ waren, wurden die letzten beiden nicht über die Prellböcke hinaus in die Grube geschoben.

Die Heimatkarten der betroffenen Familien zeigen wie so oft nicht alle Kinder; als die Waggonbewohner:innen in der Regel 10 Jahre nach ihrer Ankunft in Innsbruck hier das Heimatrecht bekamen, wurden die über 21 Jahre alten Kinder nicht automatisch mit eingebürgert. Nach ihrem Auszug aus den Waggons wohnten die Kurys, die Schiegls und die Johns alle in der Dr.-[Ing.-]Riehlstraße auf den Nummern 2, 6 und 8.


Für Freund:innen des Longreads hier die Wiedergabe des Artikels in der Volks-Zeitung in Text und Bild:

Ein Zusammenstoß bei den Waggonbewohnern.

Ein schreckenerregendes Unglück, welches alle Waggonbewohner in schwere Aufregung versetzt hat, hat sich am Montag um ca. 9 Uhr 20 vormittags im hiesigen Südbahnheizhause zugetragen. Dank des glücklichen Zufalls ist es noch ohne Verlust an Menschenleben abgegangen. Auf ein Gleis, welches von Waggonbewohnern besetzt gehalten ist, wurde ein Güterwagen gestellt und später wieder abgeholt. Es ist an dieser Stelle sonst nur für einen Wagen noch freier Platz, während das übrige Gleis mit bewohnten Wagen besetzt ist. Wie stets bei einem Verkehrsunfall mehrere Umstande ineinanderwirken bezw. versagen müssen, daß es zu einem Unfall kommt, so war es auch hier; da diese Weiche sonst nie befahren wird, wurde der Wechsel nicht mehr zurückgestellt und da hier täglich etwa hundert und mehr Lokomotiven von und zu den Kohlen fahren, so geschah es auch sehr bald, daß eine daherkommende Lokomotive statt zu den Kohlen, in das bewohnte Gleis einfuhr und sodann mit furchtbarer Gewalt an die bewohnten Wagen anprallte. Wenn auch Wächter und Lokomotivführer im letzten Augenblick sahen, was geschieht, wenn auch der Lokomotivführer die Geschwindigkeit mit allem Aufgebot herabminderte, es war zu spät, der Weg war zu kurz, das Unglück geschah und hatte eine fast verheerende Wirkung.

Die Inneneinrichtung des Küchenwagens vom Wagenmeister Franz Kuri aus Franzensfeste ward ein Trümmerhaufen. Jahrzehntelanges Sparen, Leiden und Entbehren ist mit einem Ruck vernichtet. Die im Wagen anwesende Frau wurde unter den umgestürzten Möbeln begraben und mußte daraus hervorgeholt werden. Sie erlitt Quetschungen und einen Nervenchok. Auch Gen. Kuri, der ebenfalls im Wagen anwesend war und auf die Rufe des Wächters hin zum Fenster eilte, erlitt am Kopfe eine Verletzung geringerer Art. Die Kinder waren zurzeit glücklicherweise nicht zu Hause. Die Familie erleidet einen katastrophalen Schaden. Aber auch die übrigen Familien gingen nicht leer aus. Trotzdem die Waggons fest eingebremst waren, wurden sie zusammengeschoben und haben die am Stocke stehenden Wagen des Lokomotivführers Schiegl und John Rudolf heftige Anprallerschütterungen erhalten. Wären die Wagen nicht so fest eingebremst gewesen, so hätte es den letzten Waggon am Stock ganz bestimmt darüber hinaus und in eine dort befindliche Grübe geworfen. Wir wollen nicht untersuchen, wer die Schuld daran trägt; dies wird eifrig der heilige Bürokratius der Verwaltung besorgen.

Tatsache ist, daß es jetzt im Heizhause hoch her geht. Der große Reparationsverkehr strengt die Bediensteten aufs äußerste an, es ist ein Hasten und Jagen, wie man sichs nicht vorstellen kann. Von allen Enden kommen Lokomotiven und fremdes Personal, weil der hier so stark gewütete Abbau das Heizhaus seines besten Personals beraubt und so gut wie zerstört hat. Unverständlich ist nur, daß eine solche Weiche, die nie befahren wird und von Menschen bewohnte Wagen birgt, nicht versperrt wurde. Gleichwohl muß es einmal gesagt werden, daß es mehr als unverantwortlich ist, daß Eisenbahnbedienstete, Fahrpersonale, jahrelang in halb faulen Waggons, zwischen stets im Rollen befindlichen Gütern der Bahn, im Lärm der an- und abfahrenden Züge, des Verschubes und der Lokomotiven, im Staub der Kohle und des Rußes usw. hausen müssen mit Weib und Kind, schlafen müssen nach den anstrengendsten Diensten, sich erholen sollen für die kommende Tour. Das mache, wer es kann!

Einem Hofrat, Zentralinspektor oder sonst einem anherversetzten hohen Herrn hat man es noch nicht gewagt, zuzumuten. Für ihn wurde immer eine Wohnung gefunden und wenn, wie es beim Inspektoratsgebäude der Fall ist, die Wohnung ein halbes Jahr früher schon bereitstehen muß. Die Waggonbewohner sind der Verwaltung gerade gut genug, um Dienst zu machen, ansonsten aber können und müssen sie in ihren Waggons elend zugrunde gehen. Diesen Menschen, die Tag und Nacht gepeinigt werden vom Lärm der Eiseübahn, keine Rast und keine Ruhe finden, im Sommer von der Hitze, im Winter von der Kälte gepeinigt werden, Weib und Kinder, Leben und Gesundheit zugrunde gehen lassen müssen, sowie ihre arme Habseligkeit langsam verlieren, diesen Menschen ist im Dienste täglich Gut und Leben Tausender anvertraut. Wäre es ein Wunder, wenn da einmal, für einen Augenblick nur, die Kraft versagt und ein Unglück ist fertig? Ist es da nicht sinnloses Sparen, wenn man für solche Leute aus Ersparungsgründen keine Wohnungen erbaut? Wenn man statt dem Jahre und Jahre lang unzählige Waggons besetzt hält und für ebensoviele andere Miete oder Waggonstandgeld zahlt, wofür man leicht schon ein Haus hergebaut hätte.

Es ist Zeit, daß diese vielgequälten Menschen, die nicht einmal im Schlafe ihres Lebens sicher sind, endlich von ihrer fürchterlichen Lage befreit werden. Dieser Unfall ist nicht der einzige, der hier in letzter Zeit passiert ist. Im Sommer war ein ähnlicher Fall auf der anderen Seite des Bahnhofes am Sillufer. Außerdem zerbarst einmal eine Salpetertasche beim Verschub und ergoß seine Flüssigkeit entlang der stehenden Wohnwagen und war es wieder nur ein Glück, daß just in diesem Augenblick keine Frauen oder Kinder vor den Wagen standen. Dies alles muß einmal gesagt werden und erklären die Waggonbewohner, daß sie von nun an angesichts dieser furchtbaren Ereignisie nicht mehr Ruhe geben werden, bis sie endlich, und dies muß im kommenden Sommer geschehen, von ihrer fürchterlichen Lage befreit werden.


Link: Alle Artikel der Waggonbewohner:innen-Serie

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