Staat und Sexualität. „Unfruchtbarmachung“ und „freiwillige Entmannung“ im Nationalsozialismus
Stellen Sie sich vor, Sie und Ihr:e Partner:in möchten eine Familie gründen – und der Staat sagt Nein. Um dem Nein Nachdruck zu verleihen, werden Sie gegen Ihren Willen sterilisiert.
Oder dieses Szenario: Sie sind ein Mann und haben sich verliebt. In einen Mann. Und Sie werden deswegen kastriert.
Diese chirurgischen Zwangseingriffe in Körper und Leben von Menschen waren im Nationalsozialismus legal. Am 1. Jänner 1940 wurde auch im angeschlossenen Österreich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) eingeführt, das im Deutschen Reich bereits am 1. Juli 1933 erlassen worden war. Darin war festgeschrieben, welche medizinischen Zustandsbilder fortan als „Erbkrankheiten“ galten und eine Zwangssterilisierung nach sich ziehen sollten. Natürlich formaljuristisch geregelt: Erbgesundheitsgerichte wurden gegründet, an denen zwei ärztliche Beisitzer und ein Richter über die einzelnen Fälle entschieden, nachdem von den Gesundheitsämtern die entsprechenden Untersuchungen durchgeführt worden waren.
Die einzelnen Fälle, das waren Menschen. Solche, die auf die eine oder andere Art in den Blick der Gesundheitsbehörden gerückt und fortan nicht mehr frei in ihrer Lebensgestaltung waren. Die jüngsten Betroffenen in Tirol waren 14 Jahre alt.
Im Gau Tirol-Vorarlberg handelte es sich um 361 Frauen und Männer, die sich so einem medizinischen Zwangseingriff unterziehen mussten. 353 wurden zwangssterilisiert, 8 Männer wurden zwangskastriert. Während die „Unfruchtbarmachungen“ auch in der NS-Zeit immer wieder als Zwangssterilisierungen bezeichnet wurden, galt das nicht für die Zwangskastrationen.
Die operative Entfernung der Hoden zur „Befreiung von einem entarteten Geschlechtstrieb“ wurde „freiwillige Entmannung“ genannt. Es genügte, wenn ein Amtsarzt oder eine Amtsärztin die angebliche Notwendigkeit der Kastration bestätigte. Freiwillig war sie real jedoch nicht. Homosexuelle Männer, die der juristischen bzw. polizeilichen Verfolgung ausgesetzt waren, willigten mitunter darin ein, um weitere Verfolgungen abzuwenden. Weitere Verfolgungen waren etwa die Einweisung in Konzentrationslager oder auch die Todesstrafe.
Nach Kriegsende wurde das GzVeN im Frühjahr 1945 als NS-Gesetz außer Kraft gesetzt. Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes erhielten die Betroffenen damit jedoch nicht. 50 Jahre später nahm sie 1995 der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus in die Gruppe der Verfolgten auf. Erst zehn Jahre später wurden die Betroffenen im Opferfürsorgegesetz berücksichtigt. Das war 2005. Vor nicht einmal 20 Jahren.
Wenn Sie mehr über dieses dunkle Kapitel der Tiroler Zeit- und Medizingeschichte erfahren möchten, dann folgt hier ein Literaturtipp:
Das Buch wird übrigens heute um 18:00 Uhr im Bürgersaal (altes Rathaus, Herzog-Friedrich-Straße 21) präsentiert. Interessierte sind herzlich eingeladen!
Text: Ina Friedmann / Titelbild: TLA, Akten der Krimnialpolizeistelle Innsbruck.