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Die Waggonbewohner:innen #3

Die Waggonbewohner:innen #3

Politik Bleib stehen bei Alois und Resi Cazzonelli

Auch wenn die berichteten Zahlen stark variieren sind sich alle mit dem Thema Wohnungsnot und Wohnungsvergabe befassten Ämter, Partien und Politiker einig: Es herrscht absoluter Handlungsbedarf bei den Waggonbewohner:innen. Die Situation ist buchstäblich eingefroren. Die überhitzte Inflation verbrennt jede Krone, bevor sie gedruckt ist. Immer mehr Eisenbahner der Südbahn kommen mit ihren Familien aus Südtirol und treffen auf eine eigentlich solidarische und wohlgesonnene Innsbrucker Bevölkerung… nur zu teilen gibt es gerade nichts. Verschiedene Baracken rund um das ehemalige Militärspital in Pradl werden – immer nur provisorisch und ohne jede Garantie für Handwerker und Lieferanten, auch in reellen Gegenwerten bezahlt zu werden – für die allerdringendsten Wohnbedürfnisse adaptiert.

Der hier geplante dritte Teil zum Thema Politik muss aber noch ein wenig warten, da uns ein Leser unter dem letzten Beitrag mit einer unglaublichen Zusendung überrascht hat. Der Autor dieser Zeilen traute seinen Augen nicht, als von Herrn Kinspergher ein Foto des Waggons von Alois Cazzonelli in den Kommentaren gepostet wurde. Da sitzt der verschmitzte Eisenbahner mit seiner Resi (geb. Karbon in Kastelruth) und prostet entspannt dem Fotografen zu.

Herr Kinspergher hat mir dann auch noch die Rückseite geschickt, die sich im Familienarchiv digital erhalten hat. Diese Bildpostkarte hat Alois Cazzonelli selbst im Sommer 1921 nach Franzensfeste verschickt, Adressat war der dortige Korrespondent (oder auch nur Repräsentant) der Sozialdemokratischen Volks-Zeitung Adolf Berger, von dem schon in Teil 2 dieser kurzen Serie zu lesen war.

Die Transkription list sich so:

Herrn
Adolf Berger
Unterbeamter
in
Franzensfeste
Hauzhaus [Anmerkung: Das „Hauzhaus“ ist eine Adresse am Bahnhof FF]

***

Innsbruck
Werter Freund
Hier schicke ich dir
ein Bild von meiner 
Villa uns geht es 
so weit gut was wir
auch von Euch hoffen
Ich habe dir schon zwei 
Briefe geschrieben und
nie keine Antwort
Wir danken einstweilen
vielmals was du uns 
geschickt hast. Mit den 
Wohnungen geht es schlecht.
[vorne]
Viele Grüße an Dich und Frau 
Kinder von uns Alois Resi 
Cazzonelli

Die Identifizierung der Abgebildeten war einfach. Die Familie Cazzonelli ist in Innsbruck und speziell im Saggen stadtbekannt, egal mit wem man darüber spricht ist die Gegenfrage „der Friseur Cazzonelli?“ – nun, bei unserem oben abgebildeten Alois (*1884) handelt es sich um den Onkel des Friseurs Alois Cazzonelli (*1914), ein Sohn des Emil (*1886). Ein weiterer Bruder des Alois senior, Franz Cazzonelli (*1890), wird uns hier auch noch mit seiner abenteuerlichen Lebensgeschichte beschäftigen. Die ganze Familie hatte viele Jahre im Viaduktbogen 43 gewohnt, wohin Großvater Alois Cazzonelli (*1856, +1913), ein früher nach Leifers und dann nach Innsbruck zuständiger Bahnarbeiter mit seiner großen Famlie gezogen war. Im Adressbuch erscheint die Familie viele Jahre in den Varianten „Carronelli„, „Cazzanalli“ oder „Cazzanelli„.

I
n den Adressbüchern wohnt Alois Cazzonelli nie in einem Waggon. Die Bücher waren genau, nur sind sie nach dem Ersten Weltkrieg nicht jedes Jahr erschienen. Und nicht jeder wollte mit dieser Adresse darin aufscheinen… also erbat ich im Tiroler Landesarchiv die Innsbrucker Meldezettel des abgebildeten Paares.


Die Meldezettel ergeben auch keinen Hinweis auf eine Waggonbewohnung. Allerdings sind einige der Abmeldedaten erst später nachgetragen; Alois und Resi wohnten 1919 bis zum Sommer 1921 in der Kohlstattgasse 1 (das ist buchstäblich das Haus hinter dem Viaduktbogen 43 rechts). Danach meldeten sie sich wieder bei der Mutter in der Amthorstraße 10 (hier wohnten über die Jahre fast alle Mitglieder der Familie) an. Gut möglich, dass sie stattdessen auf den Bahnhof übersiedelt sind, in die „Villa“. Dass dieses Bild von der Postkarte nur eine Photo-Op, wie man heute sagen würde, war, kann irgendwie nicht gut sein. Im April 1924 übersiedelten Alois und Resi dann in die Reichenauerstraße 42c, aus der bald die Mitterhoferstraße 5 wurde. Wieder nach Innsbruck zugezogen sind die Cazzonellis im Sommer 1919 aus Franzensfeste… wo sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Freundschaft mit Adolf Berger begründet hatten.

Über Alois und Resi Cazzonelli ist sonst nicht sehr viel bekannt. Der „BB-Spängler“ und Lampist und seine Frau hatten im April 1912 in der Pfarre Pradl geheiratet und offenbar keine Kinder. So wie ihr Freund Adolf Berger wünschten sie über viele Jahre allen Freunden und Bekannten ein Gutes Neues in der Silvesterausgabe der Volks-Zeitung.

Alois Cazzonelli starb 1960, Theresa 1962 in Innsbruck.

Vielen Dank noch einmal der Familie Kienspergher für dieses Foto; neben der Dokumentation einer visuell fast vollständig verschwundenen Phase der Innsbrucker Wohnungsnot ist es einfach auch ein irrsinnig nettes Bild, bei dem sich die in eine Zwangslage geratenen Cazzonellis augenzwinkernd und als sympathisches Paar auf den Stufen ihrer Villa ein Glasl einschenken… Selbstironie und Optimismus der Königsklasse.

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